Der Oberst blieb stehen.
»Seid Ihr etwa der Doktor der Medizin?«
»Ja, wie kommt Ihr darauf?«
»Man hat mir heute Vormittag Vortrag über Euch gehalten.« Er sah ihn sich, soweit es die Dunkelheit zuließ, von oben bis unten an. »Dann habe ich also einen regelrechten Deserteur vor mir und kann nichts tun, um ihn dorthin zubringen, wo er gerade hergekommen ist.«
»Das ist Euer Pech und mein Glück«, lachte Michel. Dann wurde er ernst. »Seht, ich bin weit in der Welt herumgekommen. Ich war in Afrika, in Indien, in Kleinasien. Ich habe viele Menschen und viele Rassen kennengelernt. Aber Intrigen, wie sie hier in Kassel herrschen, habe ich nur noch bei den Türken gefunden. Dort hat so ein dummer, aufgeblasener Pascha auch Macht über Leben und Tod seiner Untertanen, ohne daß diese irgendwo ihr Recht finden könnten.«
»Ah, Ihr redet Unsinn. Hier hat kein Mensch Macht über Leben und Tod. Unser oberster Gerichtsherr ist der Landesherr. Wie kommt Ihr zu dieser abwegigen Ansicht?«
»Es würde zu weit führen, es Euch zu erzählen. Ich habe am eigenen Leib verspürt, welche Macht so ein hessischer Pascha besitzt.«
»Hessischer Pascha?«
»Nun, man sagt hierzulande Graf dazu. Pascha wäre treffender.«
»Erzählt. Ich gehöre ebenfalls zu der Kategorie der — hm — hessischen Paschas.«
»Diese Bezeichnung scheint Euch sehr nahegegangen zu sein, wie?« fragte Michel und lachte.
»Das wäre zuviel gesagt. Immerhin würde es mich interessieren, wie Ihr zu Eurer Auffassung gelangt seid.«
»Ich sagte schon, es würde zu weit führen, Euch das alles zu berichten. — Aber vielleicht könnt Ihr mir eine Bitte erfüllen. Da Ihr doch Offizier in landgräflichen Diensten seid, so kennt Ihr vielleicht einen Regimentskommandeur Euren Ranges, den ich gern aufsuchen möchte.«
»Wie heißt er?«
»Auch ein Pascha«, lächelte Michel. »Graf Köcknitz. Wißt Ihr, wo der gute Mann wohnt?«
Der Oberst trat erstaunt einen Schritt zurück.
»Was wollt Ihr von dem?«
»Das laßt meine Sorge sein. Er ist der einzige, der helfen kann. Das heißt, wenn er guten Willens ist.«
»Er ist immer guten Willens«, erwiderte der Oberst konsterniert.
»Um so besser. Kennt Ihr ihn so genau?«
»Hm, das will ich meinen, Ihr ehrenwerter Medizindoktor. Ich bin es selbst.«
Jetzt war es an Michel, überrascht zu sein. Aber der Pfeifer wußte seine Verblüffung gut zu verbergen. Wenn der Oberst einen Aufschrei des Erstaunens erwartete, so wartete er vergeblich.
Statt dessen kam es ziemlich gleichgültig von Michels Lippen:
»Oh, dann kann ich mir viel Sucherei ersparen. Freut mich, Euch kennengelernt zu haben.«
»Ich will nicht gerade sagen, daß die Freude auch auf meiner Seite ist«, meinte Oberst Köcknitz sarkastisch, »aber immerhin, nach dem, was man von Euch hört, müßt Ihr ein sehr interessanter Mann sein. Und da ich sowieso schlecht schlafen kann, mache ich Euch den Vorschlag, mich zu begleiten.«
»Wohin?«
»In meine Wohnung. Wohin sonst?«
»Ich wäre mehr für einen neutralen Ort«, warf Michel mißtrauisch ein.
»Herr«, brauste der Oberst auf, »wollt Ihr mich beleidigen?«
»Das liegt mir gänzlich fern. Nur, müßt Ihr wissen, ich habe so meine Erfahrungen. Deswegen bin ich vorsichtig.«
»Sapperment, ich gebe Euch mein Ehrenwort als Offizier, daß Ihr bei mir so sicher seid wie in Abrahams Schoß.«
Michel blickte den Oberst forschend an. Dann nickte er.
»Köcknitz«, sagte er sinnend, »das klingt nach Preußen, nach der Mark Brandenburg. Ich nehme an, daß Ihr aus der Streusandbüchse stammt?«
»Ja, aber was soll das?«
»Nun, ich habe noch nie gehört, daß ein brandenburgischer Edelmann sein Wort gebrochen hat.
Eure Heimat spricht für Euch. Ich gehe mit.«
Der Oberst schüttelte den Kopf.
»Ich bewundere mich selbst«, sagte er nicht ohne Humor, »daß ich Euch noch nicht fortgejagt habe. Ihr seid ein reichlich anmaßender Bursche.«
»Das kommt Euch nur so vor«, erwiderte Michel im gleichen Ton. »Draußen, in der Welt, gewöhnt man es sich an, die Menschen, mit denen man umgeht, nach ihren Taten zu beurteilen und nicht nach ihrem Stand, Beruf oder Offizierspatent.«
Sie waren unterdessen weitergegangen. Von Sankt Martin verkündeten die Glocken das Ende der ersten halben Mitternachtsstunde. Hier und da lichtete sich der Himmel ein wenig. Die Wolken schoben sich zur Seite, und silberne Sterne blinzelten den beiden nächtlichen Spaziergängern zu.
Nach geraumer Zeit standen sie vor einem schönen Haus.
»So«, sagte Oberst Köcknitz, »hier wohne ich. Tretet ein.«
Ein Bursche, verschlafen, aber dennoch dienstbeflissen, sprang herzu, um seinem Herrn Degen und Wehrgehenk abzunehmen. Dann führte der Oberst seinen Gast in einen gemütlichen, aber ohne Luxus eingerichteten Raum.
»Nehmt Platz«, sagte er und deutete auf einen tiefen Sessel.
»Gestattet Ihr, daß ich rauche?« fragte Michel.
»Ach ja, Ihr seid ja der Sohn dieses erstklassigen Tabakmischers.« Er wandte sich zur Tür und rief: »Philipp, bring mir meine Pfeife.«
Bald kräuselte der Rauch in kleinen duftigen Wirbeln zur Decke. Die Fenster des Zimmers waren geöffnet und gewährten der milden, sommerlichen Nachtluft ungehindert Zutritt. Man hätte das nächtliche Beisammensein fast gemütlich nennen können.»Nun erzählt, was Ihr von Oberst Köcknitz wolltet.«
Michel nickte und begann:
»Ich habe einen Vetter. Der sitzt im Gefängnis in der Zelle neben der, aus der ich vorhin ausgebrochen bin. Und der größte Lump von ganz Hessen hat ihn dort hingebracht.«
»Na, na —, na, na! Ihr seid schnell mit Werturteilen bei der Hand. Ich weiß zum Beispiel, daß er auf Veranlassung des Grafen von Eberstein eingesperrt wurde.«
»Eben«, sagte Michel, »der.«
»Ihr müßt das schon etwas näher erklären.«
Michel nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und lehnte sich im Sessel zurück. Dann fuhr er fort:
»Da ich einmal bei Euch bin, in der Höhle des Löwen sozusagen, will ich Euch alles der Reihe nach erzählen. Vor zehn Jahren fing es an. Damals war ich ein Opfer Ebersteins. Langweile ich Euch auch nicht?«
»Keineswegs. Ich bin nicht müde. Fangt an.«
Stunde um Stunde verrann. Die Pfeifen qualmten. Der Oberst unterbrach die Erzählung Michels nur einmal, um zu fragen, ob er Appetit auf ein Glas Wein habe. Philipp, der Bursche, brachte die Flasche. Er schien daran gewöhnt zu sein, daß sein Herr spät schlafen ging. Jedenfalls war er immer zur Hand, wenn der Oberst ihn brauchte.
Es wurde vier Uhr und fünf Uhr. Die lebhaften Augen des Grafen Köcknitz streiften immer wieder das Gesicht des Erzählers. Fast unglaublich klangen die vielen Abenteuer in den Ohren des alten Offiziers. Da saß ihm einer gegenüber, der all das verwirklicht hatte, was er, der Oberst, noch zu Zeiten, da er als junger Leutnant in die Armee Friedrich Wilhelms I. eingetreten war, erträumt hatte. Da lag die Welt offen vor seinem Auge, schillernd und faszinierend, wie er sie sich vorgestellt hatte. Seine Skepsis dem jungen Arzt gegenüber war längst gewichen. Und als die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen, hatte er die Überzeugung gewonnen, daß Eberstein wirklich der Lump war, für den ihn der Pfeifer hielt.
55
Ojo wartete Stunde um Stunde. Um halb vier war Michel weggegangen. Als es zehn Uhr abends war, wurde der treue Begleiter des Pfeifers unruhig. Er ging in die Wirtsstube hinunter und bestellte sich einen Krug Wein. Zuerst trank er nur langsam. Aber als es elf war, leerte er die Becher schneller.
Stets, wenn Jehu Rachmann eine Pause in seinem Spiel einlegte, trat Ojo zu ihm ans Klavier.
Und obwohl sie sich nicht verständigen konnten, verstanden sie sich doch ausgezeichnet.
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