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Berlin-Mitte, Brandenburger Tor | 11.55 h
»Macht eine Tapetenmark, Herr Kommissar«, witzelte Fluppen-Kalle und überreichte Sydow zwei Bouletten, bei deren Geruch ihn ein nie gekannter Heißhunger überkam. »Falls Sie momentan knapp bei Kasse sind – bei mir hamse immer Kredit.«
»Besten Dank für das Angebot, Kalle«, gab Sydow an die Adresse des Imbissbudenbesitzers zurück. »Aber ich will dich nicht in den Ruin treiben.«
»Doch nicht jetzt, wo es wieder aufwärtsgeht!«, rief der Ex-Schwarzhändler hinterher, während sich Sydow an den Tisch begab, der in unmittelbarer Nähe der Imbissbude stand. Beim Anblick der Bouletten lief Gladys das Wasser im Mund zusammen, was Sydow mit einem verschmitzten Lächeln quittierte.
»Warum so schweigsam?«, fragte die MI6-Agentin nach Beendigung des wahrhaft fürstlichen Banketts, dessen eigentlicher Höhepunkt im Konsum einer Flasche
Coca-Cola bestand. »Ist doch alles noch mal gut gegangen, oder?«
»Sieht man davon ab, dass eure amerikanischen Cousins den Fall übernommen haben, muss ich dir recht geben«, gab Sydow zurück und nippte an seiner Colaflasche. »An diese Ami-Jauche muss ich mich erst noch gewöhnen«, stellte er mit säuerlicher Miene fest. »Ein Bier wäre mir gerade lieber. Als Britin müsstest du eigentlich Verständnis für mich haben.«
Ein Lächeln im Gesicht, strich Gladys eine Haarsträhne hinters Ohr und sagte: »Erst dann, wenn du mir gesagt hast, was dir im Kopf rumgeht. Ein Bier trinken, und das auch noch im Dienst – ich muss doch sehr bitten, Herr Kommissar.«
Sydow erwiderte ihr Lächeln, und während er dies tat, wurde er auf einmal knallrot. Gegenüber Rebecca, deren Bild ihm urplötzlich vor Augen stand, kam er sich wie ein Verräter vor, wenngleich er versuchte, den leicht unterkühlten britischen Gentleman zu mimen.
»Von der Tann?«
Heilfroh, von seinen Gedanken abgelenkt zu werden, nickte Sydow zerstreut. »Erraten«, gab er anstandslos zu, das Geräusch einer sich nähernden Limousine im Ohr. »Wenn ich wüsste, wohin sich dieser Verbrecher verkrochen hat, wäre mir um einiges …«
»Leichter, Herr Kommissar, kann ich verstehen«, vollendete die weiche, mit einem Schuss Ironie durchsetzte Stimme, in der er diejenige des einstigen Rivalen erkannte. »Wo Sie doch alles getan haben, den vermeintlichen Kopf dieser Werwölfe zur Strecke zu bringen.« Kuragin gab ein verlegenes Räuspern von sich. »Wie ungehobelt von mir«, fügte er eilfertig hinzu, kaum imstande, sich vom Anblick der attraktiven, mit hautengem Kostüm und weißer Bluse bekleideten MI6-Agentin zu lösen. »Kuragin ist mein Name – Juri Andrejewitsch Kuragin.«
»Und meiner Tom«, fuhr ihm Sydow in die Parade, nachdem er sich zu dem MGB-Major umgedreht hatte, der auf dem Beifahrersitz eines schwarz lackierten Moskwitsch saß. Doch dann besann er sich und sagte: »Zunächst einmal danke, dass Sie meiner Einladung zu einem Plausch unter Freunden Folge geleistet haben, Herr Major .«
»Warum denn so förmlich, Herr Kollege?«, stichelte Kuragin, dem Sydows Eifersuchtsattacke nicht verborgen geblieben war. »Jetzt, wo sich alles wieder einigermaßen im Lot zu befinden scheint.«
»Finden Sie?«
»Falls Sie auf von der Tann anspielen, Herr von …«
»Sydow, wenn es keine allzu großen Umstände macht«, erstickte der Kripo-Beamte den Redefluss des MGB-Majors im Keim. »Um es kurz zu machen: Woher kennen Sie diesen Kerl?«
»Kennen wäre zu viel gesagt, Herr Kommissar«, antwortete Kuragin, dem es sichtlich Freude bereitete, seinen Gesprächspartner auf die Folter zu spannen. »Einen Mann wie ihn nicht zu kennen, würde allerdings bedeuten, dass ich beim MGB nichts zu suchen habe.«
»Ohne Umschweife, Kuragin: Woher …«
»Erinnern Sie sich an das Foto, das Sie mir während der Fahrt gezeigt haben, Herr Kommissar? Ohne mir die Namen der drei Herren zu nennen?«
»Ach, daher weht der Wind.«
»Genau. Über einen Mann wie von der Tann sind wir natürlich bestens im Bilde. Und dass ich eins und eins zusammenzählen kann, dürfen Sie mir getrost zutrauen.«
»Das bedeutet, Sie haben ihn hopsgenommen.«
»Scharfsinnig wie immer, unser Herr Kommissar«, spottete Kuragin und ließ seinen Genießerblick über Sydows überaus anziehende Begleiterin schweifen. »Aber keine Sorge, für sein Wohlergehen ist bestens gesorgt. Das heißt, falls der Herr Brigadeführer kooperiert.«
»Und wenn nicht?«
Kuragins Gesicht verzog sich zu einem zynischen Grinsen, und bevor Sydow nachhaken konnte, war das Flair des Salonlöwen, mit dem sich Kuragin umgab, der eisigen Miene eines Vernehmungsoffiziers gewichen. »Dann werden wir ihn gleich erschießen«, verkündete er mit tonloser Stimme. »Verdient hat er es ja wohl.«
»Finden Sie nicht, Sie gehen ein wenig zu weit?«
»Gegenfrage: Finden Sie nicht, über 31.000 Tote sind Grund genug?«, hielt Kuragin dagegen und atmete tief durch. »Nichts für ungut, Herr Kommissar«, leitete er einen abrupten Themenwechsel ein, »hat mich jedenfalls gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ein paar Hundert mehr von Ihrer Sorte, und der Krieg wäre uns vermutlich erspart geblieben.«
Sydow, den die Reminiszenz an Borodins Worte erneut rot werden ließ, nickte und hob die Hand zum Gruß. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte er mit einem Hauch Wehmut im Ton. »Und machen Sie’s gut.«
Doch da hatte Kuragin bereits das Fenster hochgekurbelt und dem Fahrer der gepanzerten Limousine das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Gefolgt von Sydows Blick, rollte der Moskwitsch auf den Kontrollpunkt zu, der sich unmittelbar vor dem Brandenburger Tor befand. Als sei es Stalin persönlich, der in ihm saß, standen die Posten umgehend stramm.
Auch dann noch, als die dunkle Limousine den Kontrollpunkt längst passiert hatte und hinter den Schutthaufen, die einem von Westen aus die Sicht versperrten, verschwunden war.
»Zeit für einen Bummel über den Kudamm, findest du nicht auch?«, hörte Sydow, der sich vom Anblick der bewaffneten Grenzposten, Sandsäcke und Stacheldrahtverhaue nicht losreißen konnte, die MI6-Agentin sagen. »Oder willst du etwa hier Wurzeln schlagen?«
»Lieber nicht«, antwortete Sydow, dem auf einmal wehmütig ums Herz geworden war. »Bis das Gerümpel da drüben verschwindet, wird es bestimmt noch eine Weile dauern.«
»Sieht ganz danach aus«, flüsterte Gladys betrübt und hakte sich bei Sydow unter, bemüht, ihn in die entgegengesetzte Richtung zu dirigieren. »Wovon wir beide uns nicht die Laune verderben lassen dürfen.«
»Ganz deiner Meinung«, stimmte Sydow ihr zu, der gegen die Gänsehaut, die er in diesem Moment bekam, völlig machtlos war. Dann machte er kehrt, lächelte und schlenderte mit seiner Begleiterin, um die ihn sämtliche Kunden der Imbissbude beneideten, im Schein der Mittagssonne auf die Siegessäule zu.
Es war der erste Tag im September, die Luft deutlich kühler als noch einen Tag zuvor. Der Tiergarten erstrahlte in herbstlichem Licht, und der Himmel über Berlin, der mit einer schier endlosen Kette silbrig glänzender Punkte besprenkelt war, zeigte sich in einem Blau, wie man es nur selten zu sehen bekam.
Doch davon bekam Tom Sydow, Hauptkommissar der Kripo Berlin, nicht allzu viel mit.
EPILOG
(Kiew/Ukraine, Mai 1965)
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Babi-Yar, knapp 15 Jahre später | Samstag,
12. Mai 1956
Es war Vaters Geburtstag, und deshalb war er hier. Nicht etwa, weil noch irgendetwas an den Tag, der sein Leben wie kaum ein anderer geprägt hatte, erinnerte. Die Toten waren längst exhumiert und vor dem Einmarsch der Roten Armee verbrannt, die Wände der Schlucht gesprengt und sämtliche Spuren des Grauens, das dereinst hier seinen Lauf genommen hatte, beseitigt worden. Was die Täter jedoch nicht fertiggebracht hatten, war, die Spuren des Massakers aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen. In diesem Punkt hatten sie sich getäuscht, und je mehr Zeit seit jenen verhängnisvollen Septembertagen verstrichen war, umso klarer tauchten sie vor dem geistigen Auge der Davongekommenen auf.
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