Dann wendete er seinen VW, bog in Richtung Humboldthafen ab und beschleunigte auf 80 Sachen. »So, mein Freund, und jetzt geht es dir an den Kragen«, knirschte er und raste in Richtung Tiergarten davon, ohne einen Blick für die untergehende Sonne, in deren Licht die Pfützen wie Blutlachen aussahen.
Amerikanisches Hauptquartier an der Saargemünder Straße | 20.12 h
»Aber Sir –«, wandte Clays Adjutant, ein 25-jähriger Harvard-Absolvent aus Indiana, konsterniert ein. »Das … das können Sie doch nicht tun.«
»Und ob ich das kann!«, polterte Clay und hieb mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass der Hörer beinahe von der Gabel gerutscht wäre. »Oder wollen Sie, dass demnächst der Dritte Weltkrieg ausbricht?«
»Natürlich nicht«, beteuerte der schlaksige, entschieden zu blasse Adjutant, die feingliedrigen Hände an die Hosennaht gepresst. »Ich fürchte nur, wir können die Provokation der Russen nicht einfach auf sich beruhen lassen.«
»Und wer sagt Ihnen, dass es die Russen waren?«
»Bei allem schuldigen Respekt, Sir. Diesbezüglich lässt der Bericht des Wachhabenden am Checkpoint Charly an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.«
»So, lässt er das«, echote Clay und fläzte sich entnervt in seinen Ledersessel. »Was, wenn es jemand anders war?«
»Jemand anders, Sir?«
Aufs Äußerste erregt, hielt es Clay nicht mehr auf seinem Platz. »Schon gut, schon gut«, spie er die Worte förmlich aus. »Mag sein, dass ich wieder mal auf dem Holzweg bin. Eins sollte uns allen jedoch klar sein, mein Junge: Wenn ich Washington informiere, müssen wir uns warm anziehen.«
»Auf alle Fälle, Sir. Meiner Meinung nach bleibt uns jedoch keine andere Wahl.«
»Hm.« Obwohl es ihm widerstrebte, musste Clay seinem Adjutanten recht geben. Anhand der Indizien, die sich im Verlauf des Tages angehäuft hatten, konnte es bezüglich der Urheberschaft der drei Anschläge keinerlei Zweifel mehr geben. Rein theoretisch betrachtet, wohlgemerkt. Eine sowjetische 2M-3, ein Moskwitsch als Bombendepot, eine Frontalattacke am Checkpoint Charly – Krieg, was begehrst du mehr?
»Ihre Befehle, Sir?«
Die Hände in den Hosentaschen, trat Clay ans Fenster und ließ den Blick über den Innenhof wandern, wo Pioniere immer noch damit beschäftigt waren, die Spuren des Bombenanschlags zu beseitigen. »Irgendwas ist hier faul«, knurrte er. »Ich wüsste nur zu gern, was.«
»Mit Verlaub, Sir: Selbst wenn Sie recht haben, ändert dies nichts an den Fakten«, tat der promovierte Jurist mit dem Brustton der Überzeugung kund. »Allein schon aus diesem Grund wird uns nichts anderes übrig bleiben, als umgehend Verbindung mit dem Präsidenten aufzunehmen.«
»Meinetwegen«, gab sich Clay wider Willen geschlagen. »Sollen sich doch die da drüben in Washington den Kopf darüber zerbrechen.«
Dann griff er zum Hörer und begann zu wählen.
Berlin-Kreuzberg, Polizeipräsidium in der Friesenstraße
| 20.12 h
Der Schatten hinter dem Schreibtisch von Kriminalrat Erwin Hattengruber kroch unaufhaltsam nach oben, und es war eine Frage von Minuten, bis er ihn verschluckt haben würde. Der 49-jährige Leiter der Kriminalinspektion I, von seinen Untergebenen liebevoll Onkel Erwin genannt, saß da wie versteinert und rührte sich nicht vom Fleck. Fast schien es, als stecke kaum noch Leben in ihm, wovon sich Tom Sydow freilich nicht täuschen ließ. Der wachsame Blick, stechend wie der eines Habichts, verriet die Anspannung, unter der er stand, und das bedeutete, dass er sich noch nicht geschlagen gab.
»Um es kurz zu machen, Erwin«, kam Sydow ohne Umschweife zur Sache, »wo bist du am 29. September 1941 gewesen?«
»Ich glaube nicht, dass mir dein Ton gefällt, Tom«, zischte Hattengruber, aus dessen Blick ihm der blanke Hass entgegenschlug. »Meiner Ansicht nach muss ich mir das als Kriminalrat nicht gefallen lassen.«
»Wenn ich mit dir fertig bin, Erwin«, raunzte Sydow, während sein Oberkörper ruckartig nach vorn schnellte, »bist du die längste Zeit Kriminalrat gewesen. Darauf kannst du Gift nehmen.«
Aus der von wulstigen Lippen umrahmten Mundöffnung des ehemaligen SS-Sturmführers erscholl ein hämisches Lachen. »Da ich ein neugieriger Mensch bin, Sydow , würde ich gerne wissen, woher Sie die Unverschämtheit nehmen, mir zu drohen.«
»Wie praktisch, dass du mich siezt, Erwin – das macht die Sache leichter«, gab Sydow ungerührt zurück. »Um jedoch zu deiner Frage zurückzukommen – damit!«
Beim Anblick der Fotografie, mit der Sydow ihn konfrontierte, wich die Starre aus Hattengrubers Gesicht, doch war seine Verblüffung nur von kurzer Dauer. »Ein Kriegsfoto – na und?«, erwiderte er in gelangweiltem Ton, mit dem er Sydow umso mehr in Rage brachte. Seine Habichtsaugen, schärfer denn je, sprachen nämlich eine andere Sprache. »Dass ich an der Ostfront war, ist ja wohl hinlänglich bekannt.«
»Stimmt – aber nicht, dass du ein Massenmörder bist«, antwortete Sydow mit schneidender Stimme und bewegte den Oberkörper nach vorn. »Um deine und insbesondere meine Zeit nicht unnötig zu vergeuden, Erwin: Warum hast du das getan?«
»Was denn?«, spielte Hattengruber den Ahnungslosen und schwenkte mit einer geschmeidigen Körperdrehung nach links. Dann stellte er den Reißwolf zur Seite, der sich direkt neben dem Schreibtisch befand, schlug die Beine übereinander und lächelte. »So, das hätten wir«, schob er befriedigt hinterher.
»Eine Frage, Erwin: Auf welchem Bein hinkst du eigentlich?«
Die Habichtsaugen des Kriminalrats verengten sich bis zu einem Grad, wo sie kaum noch sichtbar waren. »Was willst du … was wollen Sie damit sagen, Herr …«
»Schluss mit der Komödie!«, fuhr Sydow seinen Vorgesetzten an. »Für deine Beteiligung am Massaker von Babi-Yar gibt es Zeugen. Doch darüber später mehr.« Sydow erhob sich und trat ans Fenster, aus dem man einen ungestörten Blick nach Westen genießen konnte. Die Sonne war gerade untergegangen, und alles, was von ihr übrig blieb, war ein schwaches Aufglimmen am Horizont. »Drei Morde, die Opfer eurer Anschläge nicht mitgerechnet – höchste Zeit, dir und deinen Kameraden das Handwerk zu legen.«
»Kameraden?«
»Tu nicht so, als wüsstest du von nichts«, zischte Sydow und wirbelte auf dem Absatz herum. »Der Mord an Ewald geht auf dein Konto, und das, mein Lieber, weißt du genau.«
»Ewald? Nie gehört.«
»Dann eben das Ganze von vorn«, sprach Sydow mit rauer Stimme, während sein Blick wie zufällig auf die Ledermappe fiel, die vor Hattengruber auf dem Schreibtisch lag. »Fakt ist, dass du und deine Kameraden zum Abgefeimtesten zählen, was mir in meinem Leben begegnet ist.«
»Worte, Worte, nichts als Worte.«
»Keine Sorge, Erwin, ich mache es kurz«, ließ sich Sydow nicht aus dem Konzept bringen. »Also: Vor nicht allzu langer Zeit, vermutlich erst vor ein paar Tagen, werden aus dem Munitionsdepot der Roten Armee in Wünsdorf jede Menge Uniformen, Handfeuerwaffen, Kalaschnikows und darüber hinaus mehrere Kisten Sprengstoff gestohlen. Nicht zu vergessen ein Flugabwehrgeschütz vom Typ 2M-3.«
»Mein Problem?«
»Die Täter, etwa ein Dutzend ehemalige SS-Angehörige, betreiben indes keine Sabotage, sondern verfolgen ein ganz bestimmtes Ziel, nämlich die Provokation eines bewaffneten Konflikts zwischen den USA und der Sowjetunion. Soweit verständlich, Erwin?«
»Fantasiegebilde, Hirngespinste, Schauermärchen.«
»Sehr zum Ärger der drei Hauptdrahtzieher auf dem Foto vor dir bekommt einer deiner Kameraden jedoch kalte Füße und wird in der Nähe des Jagdschlosses Grunewald per Genickschuss exekutiert. Zu deinem, Ewalds und deiner Kameraden Verdruss stellt sich jedoch alsbald neuer Ärger ein. SS-Obersturmführer Paul Ewald, Vorstandsvorsitzender der Mertens AG, Mäzen und Wohltäter, holt seine Vergangenheit als Massenmörder ein. Und zwar in Form einer groß angelegten Erpressungsaktion. Bei der Erpresserin, einer gewissen Lilian Matuschek, handelt es sich um eine einschlägig bekannte Dame vom Orden der Barmherzigen Schwestern.«
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