Aber da war das ungleiche Paar, ohne das seine Bemühungen zum Scheitern verurteilt gewesen wären, längst verschwunden.
*
»Dann mal ran an die Bouletten«, sprach Sydow mit grimmiger Miene, kramte seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Fahrertür auf. Wenigstens saß er jetzt im Trockenen, wenngleich nicht sonderlich bequem. Innerhalb der nächsten halben Stunde würde es ziemlich ungemütlich werden, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Sache stand auf Messers Schneide, und er fragte sich, ob es klug war, seinem Widersacher ganz allein gegenüberzutreten.
Dergestalt mit sich selbst beschäftigt, steckte Sydow den Zündschlüssel ins Schloss und wollte den Motor anwerfen. Daraus wurde jedoch nichts.
Dass er nicht alleine war, wurde ihm erst bewusst, als er einen schwachen, kaum wahrnehmbaren Zigarillogeruch bemerkte. Meine Lieblingsmarke!, fuhr es ihm absurderweise durch den Kopf, aber da hatte er den gut 30 Jahre alten Mann mit dem südländischen Teint bereits im Rückspiegel entdeckt.
Bevor er etwas sagen konnte, ergriff dieser das Wort. »Guten Abend, Herr Kommissar«, begrüßte er ihn auf deutsch, dies allerdings mit leicht russischem Akzent. »Wenn Sie erlauben, würde ich gerne ein paar Takte mit Ihnen reden.«
Auf alles gefasst, griff Sydow nach seiner Waffe. Bevor er sie jedoch aus dem Halfter ziehen konnte, spürte er die Mündung einer Pistole im Genick. »Nicht doch, Herr Kommissar«, ermahnte ihn der ungebetene Gast und beugte sich ohne Anzeichen von Hast nach vorn. »Ob Sie es nun glauben oder nicht, meine Absichten sind durchweg friedlicher Natur.« Die Stimme mit dem slavischen Timbre sank zu einem eindringlichen Flüstern herab. »Bevor wir alle vor die Hunde gehen.«
»Darf man fragen, mit wem ich die unerwartete Ehre habe?«
Zunächst hatte es den Anschein, als würde Sydow keine Antwort bekommen, und während der Mann sich besann, schielte Sydow nach seiner Waffe. Kurz davor, sie zu ziehen, hielt ihn ein Räuspern in seinem Rücken davon ab. »Nun gut, Herr Kommissar«, gab Sydows Gesprächspartner widerwillig klein bei. »Wenn Sie darauf bestehen: Mein Name ist Kuragin – Juri Andrejewitsch Kuragin.«
»Angenehm«, versetzte Sydow mit beißender Ironie.
Kuragin lachte kurz auf. »Nicht so voreilig, Herr Kommissar«, zahlte er es ihm mit gleicher Münze heim. »Angesichts dessen, was ich zu berichten weiß, wird Ihnen das Lachen bald vergehen.«
›Und er versammelte sie an den Ort, der auf Hebräisch Harmagedon heißt. Und der siebente Engel goss seine Schale aus in die Luft; und es kam eine laute Stimme aus dem Tempel vom Thron her, die sprach: Es ist geschehen. Und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner; und es geschah ein großes Erdbeben, desgleichen nicht geschehen ist, seitdem ein Mensch auf der Erde war, ein so gewaltiges, ein so großes Erdbeben. Und die große Stadt wurde in drei Teile gespalten, und die Städte der Nationen fielen, und der großen Stadt Babylon wurde vor Gott gedacht, ihr den Kelch des Grimmes des Weines seines Zorns zu geben. Und jede Insel verschwand, und Berge wurden nicht gefunden. Und ein großer Hagel, wie zentnerschwer, fällt aus dem Himmel auf die Menschen nieder; und die Menschen lästerten Gott wegen der Plage des Hagels, denn seine Plage ist sehr groß.‹
Offenbarung des Johannes 16, 16–21.
ARMAGEDDON
(Berlin, nach Sonnenuntergang)
30
Checkpoint Charly, amerikanischer Sektor | 19.48 h
An sich hätte Pjotr aus Archangelsk Verdacht schöpfen müssen. Die Wachablösung war viel zu früh dran, der Armeejeep, der die Friedrichstraße in südlicher Richtung entlangraste, erheblich zu schnell. Vom Herumstehen war Pjotr jedoch so müde, dass er sich nicht einmal nach ihm umdrehte.
Eine Nachlässigkeit mit Folgen.
Begleitet von Böen, wild zuckenden Blitzen und Sturzregen, hinter dem der amerikanische Checkpoint fast verschwand, blieb der Armeejeep etwa 200 Meter von der Sektorengrenze entfernt stehen. Durch die angrenzenden Häuserschluchten, die meisten davon immer noch Ruinen, hallte der Donner, und was Pjotr betraf, hörte er sich wie ferner Geschützlärm an. Damals, bei der Eroberung von Berlin, war er erst 17 gewesen, dafür aber einer der Ersten, die den Führerbunker gestürmt hatten. Darauf war er mächtig stolz, fast ebenso sehr wie auf den Orden, den man ihm verliehen hatte. ›Held der Sowjetunion‹ – hörte sich verdammt noch mal ziemlich eindrucksvoll an.
Dass Helden mitunter auch Fehler begehen, sollte Pjotr jedoch bald zu spüren bekommen.
Am eigenen Leibe.
Mit Blick auf den amerikanischen Kontrollpunkt, keine 50 Meter von ihm entfernt, hatte sich der Held, dessen Ruhm jäh verblassen sollte, eilends in seinen Unterstand begeben. Nass bis auf die Haut hatte er dem Jeep keine Beachtung geschenkt, mit sich und seiner tropfnassen Uniform genug zu tun.
Ein Fehler, für den er mit seinem Leben bezahlen sollte. Und die drei übrigen Rotarmisten, die sich in die Baracke hinter dem Schlagbaum geflüchtet hatten, mit dazu.
Kaum war der Armeejeep zum Stehen gekommen, sprangen sechs Männer heraus. Ihrer Uniform nach zu urteilen, handelte es sich um Angehörige der Roten Armee. Hätte Pjotr einen Blick über die Schulter geworfen, wäre er eines Besseren belehrt worden. Da er es jedoch nicht tat, spürte er plötzlich diesen Schmerz in der linken Schulter, dieses Brennen, das nicht nur durch Mark und Bein ging, sondern ihn wie ein Stück trockenes Holz aufzuzehren begann.
Sekunden später war er tot.
Seinen drei Kameraden, noch immer völlig ahnungslos, erging es nicht besser. Um ihren Plan auszuführen, kam den sechs Angreifern das Gewitter wie gerufen, obendrein funktionierten die Schalldämpfer ihrer Pistolen Marke Remington perfekt. Als sie die Baracke stürmten, hatten die mit Strumpfmasken bekleideten Eindringlinge somit leichtes Spiel, und der Tod kam so schnell, dass die drei Rotarmisten nicht einmal mehr zur Waffe greifen konnten.
Kaum war der Letzte von ihnen tot, wurden die drei nach draußen geschleift, auf die Straße gelegt und dort liegen gelassen. Danach war Pjotr an der Reihe. Alles in allem hatte die Aktion knapp zwei Minuten gedauert, und nachdem sie zu Ende war, wurde die Sprengladung, die sich unter dem Rücksitz des Armeejeeps befand, per Fernzündung zur Detonation gebracht.
Erst jetzt, als die Scheiben ihrer Wachstube klirrend zu Bruch gingen und auf der russischen Seite ein riesiger Feuerball in die Höhe schoss, wachten die GIs am Checkpoint Charly auf. Viel Zeit, auf die Geschehnisse zu reagieren, blieb ihnen indes nicht. Im gleichen Moment, als sie hinaus in den Regen stürmten, blitzte unweit von ihnen das Mündungsfeuer mehrerer Kalaschnikows auf, weshalb sie sich schleunigst in Sicherheit brachten.
Was folgte, war eine wilde Schießerei, bei der keine der beiden Parteien die Oberhand gewann. Die Amerikaner feuerten, was ihre M1-Gewehre hergaben, doch ohne Erfolg. Ihre Gegner, die überall gleichzeitig zu sein schienen, bekamen sie kaum zu Gesicht. Kein Wunder, dass sie glaubten, es mit einem Gegner in Bataillonsstärke zu tun zu haben, wobei ihnen der Gedanke, hinter dem Angriff könne jemand anderes stecken, erst gar nicht kam. Die da drüben, also die Russen, die sie mit einer
MG-Garbe nach der anderen eindeckten, hatten vor, sie alle ins Jenseits zu befördern, einen groß angelegten Angriff auf die Westsektoren zu unternehmen und ganz Berlin zu okkupieren.
Das stand doch wohl einwandfrei fest, oder?
Etwa fünf Minuten nach dem Auftauchen der sechs ehemaligen Mitglieder der Waffen-SS ebbte das Bellen der Kalaschnikows plötzlich ab. So auch der Sturzregen, von dem die hinter Sandsäcken kauernden US-Boys völlig durchnässt worden waren. Da sie dem Frieden nicht trauten, gaben die GIs ihre Deckung zunächst nicht auf, was den Angreifern Gelegenheit gab, sich aus dem Staub zu machen.
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