Zigarettenrauch zog durch die offene Terrassentür ins Wohnzimmer. Jürgen wandte ihr den Rücken zu und erzählte gerade von der Steigung auf dem ersten Wegstück morgen, dem Aufstieg zum Kleiberg.
«Über vierzig Prozent. Da machen dann schon die Ersten schlapp«, sagte er, bevor er Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte. Kurz begegneten sich ihre Blicke. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu mustern, nach Spuren in seinem Gesicht zu suchen, nach etwas, was ihn verriet, aber dann sagte sie nur» Hi «und stellte sich einen Meter neben ihn in die offene Tür und fragte ihren Bruder:
«Hast du alles für heute Nacht? Ich leg mich jetzt hin.«
«Bin versorgt. «Die Flasche war schon zur Hälfte leer, aber sein Blick so klar wie bei seiner Ankunft am Nachmittag.
Geschmust, dachte sie. War das nicht, was Mütter und Söhne taten, ohne an irgendwem Verrat zu üben? Was fiel ihrem Mann ein, alles in den Dreck zu ziehen und auf Parkbänken mit Teenagern rumzumachen, als wäre er selbst noch einer? Und erst jetzt fiel ihr auf, dass Daniel ›die Frau‹ gesagt hatte, als wüsste er längst, um wen es ging und was gespielt wurde. Ihr neunjähriger Sohn, der schon Bescheid wusste, als sie noch verzweifelt versucht hatte, Jürgens Betrug durch Selbstbetrug zu unterstützen.
Sie sah ihm ins Gesicht, als erwartete sie Lippenstiftspuren auf seinen Wangen zu finden.
«Willst du deinem Sohn noch Gute Nacht sagen?«
«Lass es lieber«, sagte Hans.»Der Kleine ist heute …«
«Halt den Mund, Hans. Du verstehst nichts von Kindern. «Den Blick hielt sie auf das Gesicht ihres Mannes gerichtet, registrierte nur aus den Augenwinkeln, wie ihr Bruder die Schultern zuckte und das Glas zum Mund führte. Sie musste schnell wieder nach oben, dieses Schwindelgefühl wurde immer stärker.
«Nein, lass ihn schlafen. Ich komm auch gleich hoch. «Hätte er ihren Blick erwidert, sie wäre bereit gewesen — für den Moment jedenfalls —, an die Möglichkeit eines Irrtums zu glauben, wäre nach oben gegangen und hätte sein Bettzeug wieder zurückgeräumt. Hätte schlecht geschlafen und um des lieben Friedens Willen drei Tage lang gelächelt. Aber er sah in die Nacht. Sie nickte und ging, zählte drei Schritte, vier, fünf, sechs. Blieb stehen.
«Du — schläfst heute Nacht auf der Couch. «Dann ging sie weiter, die Treppe hinauf.
Meter für Meter kämpften sie sich den Marktplatz hinab, Daniel zerrte, und sie folgte, und manchmal kam es ihr vor, als würde sie von ihrem Sohn durch einen bösen Traum gezogen. Ein paar vereinzelte Regentropfen fielen. Kerstin hoffte, ein Platzregen werde niedergehen und die Menge auseinandertreiben, den ganzen Grenzgangsaufmarsch einfach fortspülen. Sie wollte nach Hause und schlafen. Daniel zog an ihrer Hand wie ein Hund an der Leine.
Die Musik setzte wieder ein, polterte vor ihnen den Gartenberg hinab. Kerstin erkannte Evi Endler, und die hob die Hand und winkte ihnen von einem kleinen freien Platz neben der Imbissbude.
«Wo wollt ihr denn hin?«
«Mein Sohn will was sehen.«
«Von hier sieht man bestens. «Sie hielt Tommy auf dem Arm, der reckte den Kopf, versuchte um die Ecke den Gartenberg hinaufzuschielen.
Dann standen sie endlich, Daniel ließ ihre Hand los und kletterte auf einen metallenen Mülleimer.
«Halt dich gut fest. Guten Morgen. Hallo Tommy. «Ein Schweißtropfen rann ihren Rücken hinab. Sie hielt ihr Lächeln auf dem Gesicht, während sie Tommy durchs Haar fuhr, nahm den Rucksack ab, atmete tief durch.
«Ganz schön früh für eine Familie, was?«Evi Endler stand auf den Zehenspitzen und hatte vor Aufregung rote Wangen. Ihr schmales Gesicht war weder hübsch noch hässlich, sondern auf liebenswerte Weise unauffällig. Die Regenjacke hatte sie sich um die Taille gebunden. Je näher die Musik rückte, desto aufgeregter wurde sie.
«Gleich, Tommy-Schatz, gleich siehst du deinen Papa mit der Fahne.«
Daniel klammerte sich an einen Laternenpfahl wie an den Mast eines Segelschiffes.
«Willst du was trinken, Daniel?«Sie bekam keine Antwort und hatte auch nur gefragt, um neben Evi Endlers allzeit Liebe und Besorgnis verströmender Mütterlichkeit nicht herzlos zu wirken.
«Da kommen sie!«Mit einem Hüpfer registrierte Evi die Ankunft der beiden Reiter an der Einmündung des Gartenbergs. Tommy begann sofort zu winken. Eine Tuba tauchte auf, eine Reihe Querflöten (immer spielen Frauen die kleinsten Instrumente, dachte Kerstin), zwei Hörner. Dann kamen Becken, Trommeln, die Pauke, und dann sprang Evi Endler noch mal in die Luft und begann ekstatisch zu winken. Einen Kopf größer als alle anderen sah Herr Endler seine Frau und seinen Sohn sofort und winkte zurück. Hielt die Fahne mit einer Hand wie ein Surfer sein Segel. Kerstin hob ebenfalls die Hand und dachte: Alaaf!
Vor sieben Jahren war Jürgen Fahnenträger gewesen, und sie hatte mit ihrem zweijährigen Sohn auf dem Arm auf dem Marktplatz gestanden und gewinkt. Glücklich, vielleicht sogar stolz, sie wusste es nicht mehr. Jedenfalls hatte sie Jürgen gerne zugesehen, beim Aufmarsch ebenso wie später auf dem Frühstücksplatz, als er die Fahne schwenkte, während das Stemmkommando einen Gast nach dem anderen hochleben ließ und der Führer auf seinem Bierfass sich heiser brüllte: Der Bürger Sowieso, er lebe hoch! hoch! hoch! Jetzt zogen die Gartenberger direkt vor ihnen auf den Marktplatz, Evi Endler warf ihrem Mann verliebte Blicke hinterher, und Kerstin registrierte, dass ihr Kopfschmerz sich verflüchtigt hatte. Ansonsten war alles gleich geblieben.
«Als Nächstes kommt ihr.«
«Bitte?«
«Die Rheinstraße. «Evi Endler hievte Tommy auf ihren anderen Arm.»Rheinstraße ist als Nächstes dran.«
«Hast du gehört, Daniel?«
«Ich seh viel besser als ihr«, sagte der, ohne sich umzudrehen.
Allmählich wurde sie ruhiger. Hörte mit einem Ohr zu, wie der Führer der Gartenberger seine Meldung machte und gleich darauf die Melodie von vorher erneut erklang. Sie konnte nicht drei Tage lang ihre Wut mit sich herumschleppen wie einen Rucksack voller Wackersteine. Sobald der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, brauchte sie ein anregendes Getränk. Ein Getränk und dann mitschwimmen im großen Strom, in dem sie irgendwann ihrem Mann begegnen würde, und dann sollte der sich was einfallen lassen, wie sie die nächsten Tage miteinander umgingen, ohne aufzufallen.
«Tommy-Schatz, wir zwei gehen besser noch mal in den Imbiss Pipi machen. «Evi legte ihr die Hand auf die Schulter.»Wir sehen uns später.«
«Bis später. «Kerstin stellte sich hinter ihren Sohn und beobachtete unter seinen Armen hindurch den Einmarsch der Rheinstraße. Granitznys Obelix-Figur in der Mitte, die Reiter rechts und links, dahinter ihr Mann. Die Aufstellung hatte etwas Militärisches, und gleichzeitig sahen die Männer in Wanderkleidung, im Alter zwischen dreißig und siebzig, wenig zum Fürchten aus. Auch nicht über die Maßen würdevoll, sondern fröhlich, dörflich, und selbst die, die man hier unbedingt ›Führer‹ nennen musste, erinnerten mit ihren häufig kugelförmigen Bäuchen kaum an entschlossene Generäle. Die Säbel waren gerade scharfkantig genug, eine Melone zu zerteilen, hatte Jürgen ihr versichert. Solange er noch zu weit entfernt war, sie in der Menge zu erkennen, richtete sie den Blick auf ihren Mann. Fragte sich, so abrupt, als wollte sie sich selbst überrumpeln und zu einer ehrlichen Antwort zwingen, ob sie ihn liebte. Aber was genau hieß Liebe nach zehn Jahren Ehe? Welches Gefühl war damit gemeint?
«Hör auf, mich in den Hintern zu zwicken«, sagte Daniel schroff.
«Entschuldige. «Sie hatte nicht auf das Tun ihrer Hände geachtet.
Sie schlief gerne mit ihm in einem Bett, mochte den Geruch seiner Haut, die Muskeln darunter, die Art, wie er sie auf dem Sofa in den Arm nahm, sie an sich drückte, wenn er kam.
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