«Einigkeit und Recht und Frahaheit …«Der Text war zwar bekannter als der des Trauermarsches zuvor, aber trotzdem wurde die Hymne eher pflichtschuldig abgesungen als inbrünstig intoniert. Um sich herum sah Kerstin ein paar Grenzgänger, die sich plötzlich für ihre Schuhe interessierten.»… für das deutsche Vateherlaaand. «Die Jüngeren schnitten Grimassen oder zuckten die Schultern, andere beteiligten sich wie an einer von oben angeordneten Unanständigkeit.»Danach lasst und alle streheben, brüderlich mit Herz uhund Haaand. «Hier und da sangen Leute mit gleichgültiger Unbefangenheit, und alleine ein dicker Mann mit Bürstenhaarschnitt und Bernhardinergesicht stand vorne auf dem Podest und schmetterte aus voller Kehle mit:»Blüh im Glahanze dieses Glühückes, blüehe deuheutsches Vateherland. «Dann war es vorbei, das Lächeln kehrte zurück auf die Gesichter, Kerstin sah die Wettläufer in Position gehen, der Bürgeroberst trat noch einmal vor die aufgestellten Gesellschaften und rief:
«Bürger und Burschen, stillgestanden! Das Geweeeehr über! Grenzgang: Marsch!«Damit ging es endlich los: Wie von selbst formierte sich der Zug, der Mohr tanzte vorneweg, Reiter und Gesellschaften reihten sich ein, und die Mitglieder des Komitees verließen die Bühne. Kerstin beobachtete den Bürgermeister, der noch einen Moment lang vor seinem Pult stand und die Blätter seiner Rede einsammelte; ein untersetzter Mann, der wie ein berufsmüder Klassenlehrer seine Sachen zusammensuchte, während die Schüler in die Pause tobten und sich wohl nicht allzu gut an seine Lektion erinnerten. Sie wäre gerne nach vorne gegangen, um ihm zu sagen, dass ihr die Rede gefallen habe.
«Jetzt aber schnell. «Daniel kletterte von seinem Mülleimer.
«Schnell was?«
«Hinterher.«
«Erst dreht der Zug eine Runde durch die Oberstadt. Danach dürfen wir mitmarschieren.«
«Jetzt noch nicht?«
«Jetzt nur Burschen und Männer. So sind die Regeln beim Grenzgang. Wir Frauen müssen uns hinten einreihen.«
«Ich bin keine Frau.«
«Kannst es ja versuchen. Ich geh zu Onkel Hans und warte mit ihm, bis der Zug die Schlossgasse wieder runterkommt. Da vorne steht Nobs.«
Daniel wandte den Kopf. Er sah besser aus jetzt, schien in dem Schauspiel um ihn herum vergessen zu haben, was seit Wochen an ihm nagte und seit dem Vorabend an ihm zerrte. Sie strich ihm mit der Hand über den Kopf.
«Das heißt also, unsere Wege trennen sich hier. War schön mit dir, mein Sohn.«
Er verdrehte die Augen.
«Ich wette, dass ich vor dir am Frühstücksplatz bin.«
«Willst du was aus dem Rucksack? Hast du noch Bons?«
«Mach dir um mich keine Sorgen, Mama. Echt! Ich komm schon zurecht. «Damit rannte er los, und so wie sich manchmal die einfachsten Wahrheiten auf den größten Umwegen einstellen, dachte sie, dass die Wahrheit über ihr Leben in einen einzigen Satz passte: Außer Daniel und Jürgen hatte sie nichts und niemanden. Und ihre Hochnäsigkeit und was daraus folgte, war nichts als der Versuch, um diese Wahrheit herum einen Zaun zu errichten, so dass sie selbst nicht unerwartet dagegen prallte, während sie aus dem Küchenfenster sah und wartete, dass der Auflauf gar wurde. Einmal im Monat besuchte sie ihre Mutter in Olsberg, um sich fragen zu lassen, warum sie seit drei Monaten keine Zeit für einen Besuch gefunden habe, und manchmal machte sie noch einen Abstecher zu ihrem Bruder, der zehn Jahre älter war als sie, dessen Denken und Handeln sie nicht verstand und den sie liebte mit einer Mischung aus Hoffnungslosigkeit, schlechtem Gewissen und der festen Überzeugung, dass es seine Schuld war, nicht ihre. Sie hatte keine Arbeit, war nicht religiös und ihre beste Freundin wohnte Hunderte Kilometer entfernt. Wenn Jürgen sich jetzt entschließen sollte, sie sitzenzulassen und mit einem Teenager ein neues Leben zu beginnen, dann konnte sie sich zu Hause unter der Decke verkriechen, nüchtern die Summe aus zehn Jahren Ehe ziehen und feststellen, dass sie einen Sohn hatte, um den sie sich keine Sorgen machen musste. Echt, Mama. Und sonst nichts.
Der Zug war auf dem Weg den Marktplatz hinauf Richtung Kaltenbach. Das Peitschenknallen klang jetzt von der Oberstadt herab, die Spitze des Zuges bewegte sich bereits durch die engen Gassen und würde bald wieder zurück sein. Hans stand oben neben der Apotheke und rauchte. Sie empfand eher Erstaunen als Erschrecken: Wie schnell es gehen konnte, wie wenig sie davon trennte, ihr Leben in Trümmern liegen zu sehen. Ein paar Hormone im Körper ihres Mannes, chemische Reaktionen, die sich irgendwann zu dem formten, was er mit ernstem Gesicht eine Entscheidung nennen würde. Und sie? Fallen würde sie, nicht kurz und hart, sondern wie in Zeitlupe, ohne es zu glauben zuerst, und vielleicht empfand sie deshalb keine Angst, sondern nur diese grenzenlose Verwunderung. Allen ging es so: Evi Endler lief mit Tommy über den Marktplatz, Daniel und Nobs waren in der Menge verschwunden. Die Bergenstädter standen abmarschbereit oder marschierten bereits, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass deren Leben so viel sicherer war als ihres.
Ihre Ehe war hinüber, sie wusste es. Schon passierte das Ende des Zuges den Platz vor der Imbissbude, und kurz darauf stand niemand mehr in ihrer Nähe. Ein Mann im blauen Overall rollte die Kabel vor dem Podest zusammen. So schnell ging das, so unglaublich schnell. Alles strömte den Kaltenbach oder die Schlossgasse hinauf oder bildete eine Gasse am anderen Ende des Marktplatzes. Sie sah Hans eine Armbewegung in ihre Richtung machen, als wollte er sagen: Worauf wartest du noch?
Worauf wartete sie noch? Der Grenzgang begann, sie hatte das Ende erreicht, und zwischen den Wolken strahlte zum ersten Mal die Sonne hervor.
Er war alles gleichzeitig: aufgekratzt, erschöpft, gelangweilt, gespannt, nervös. Geblendet blinzelte er ins morgendliche Sonnenlicht und bekam Lust, sich an den Straßenrand zu setzen und den ganzen Zug passieren zu lassen. Fünfzig Meter weiter begann der eigentliche Grenzgang: Der Zug hatte die letzten Häuser von Karlshütte hinter sich gelassen und bog im rechten Winkel von der Bundesstraße ab, hinein in den Wald. Den Kleiberg hinauf. Aus meterlangen Baumstämmen waren zwei Treppen gezimmert worden, um den Wanderern das Überwinden des Straßengrabens und der steilen Böschung zu erleichtern. Dann ging die Kraxelei los. Es gab weder Weg noch Stufen, noch etwa ein Geländer auf diesen zwei Kilometern hinauf zum Kamm. Rufe hallten zwischen den Bäumen herab, die Spitze des Zuges war bereits auf halber Höhe, das Ende konnte Weidmann nicht erkennen, aber das Peitschenknallen klang weit weg, kam von der Höhe der Berufsschule oder noch weiter. Und immer noch waren seine Beine schwer von drei Stunden Halbschlaf im engen Auto und der anschließenden Fahrt.
Er hatte seinen Wagen am Bürgerhaus abgestellt und sich unter die Menge auf dem Marktplatz gemischt, wortlos erstaunt angesichts des Spektakels. Leichte Sommerschuhe mit glatten Sohlen trug er, in denen man die Friedrichstraße entlangschlendern, aber nicht den Kleiberg besteigen konnte, dazu Flanellhosen, ein nicht mehr frisches Hemd, und das Jackett hatte er sich über die Schulter geworfen wie ein Museumsbesucher. Rings umher trugen alle Kniebundhosen oder groben Cordstoff, Wanderschuhe, manchmal Turnschuhe, Fleece- oder Regenjacken. Die Älteren hatten Stöcke dabei. Und vom Äußeren abgesehen: die Fröhlichkeit, der Gesang und die Hochrufe, die gute Laune in den unauffällig derben Gesichtern, all die Gemeinsamkeit — und er nicht. Drei oder vier Kilometer, vom Marktplatz durch den Ort und anschließend die Bundesstraße entlang nach Karlshütte war er mit dem Gefühl gelaufen, jeden Moment werde sich jemand zu ihm umdrehen und ihn höflich, aber bestimmt bitten, aus dem Zug auszuscheren. Nicht so zu tun, als gehöre er dazu.
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