«Leider nicht«, sagte ich,»aber mit Ihnen hätte ich gern Brüderschaft getrunken.«
«Sag du«, flüsterte sie.»Einfach nur Michaela und du, ja?«
«Sehr gern, Michaela«, sagte ich, nannte meinen Vornamen und sah auf ihre wunderschöne Hand, die auf meinem Unterarm liegengeblieben war.
Ihr Enrico T.
Liebe Nicoletta!
Bevor ich Ihnen weiter von Michaela berichte, muß ich ein Erlebnis aus dem Sommer von 1987 einfügen, über das ich mit niemandem sprach, weil es mir nicht weiter erwähnenswert schien. Wie hätte ich es auch verstehen sollen?
Vielleicht gibt es ja etwas in uns jenseits des Bewußten oder Unbewußten, etwas, was jener Empfindungsgabe verwandt ist, die die Tiere ein Erdbeben oder Unwetter lange vor uns spüren läßt. Soll ich es Instinkt, soll ich es Ahnung nennen? Oder einfach nur ein besseres Sensorium?
Im August war ich für zwei Wochen nach Waldau gefahren, um endlich mit meiner Novelle voranzukommen. Eines Nachts erwachte ich und vermeinte zu hören, wie ein Schuß im Haus, im ganzen Wald nachhallte.
Wäre nicht das Knarren des Bettes gewesen, ich hätte mich für taub gehalten. Ich schnippte mit den Fingern. Kein Rascheln, kein Wind, kein Vogel. Ich schwitzte und wußte, daß ich nicht wieder einschlafen würde.
Nackt, wie ich war, trat ich hinaus vor die Tür. Alles schien erstarrt. Um jedes Geräusch, das ich machte, schloß sich die Stille nur um so dichter. Je angestrengter ich lauschte, desto undurchdringlicher wurde das Schweigen, bis ich es schließlich wie einen riesigen schwarzen Quader über meinem Kopf zu spüren glaubte.
Mehrmals versuchte ich durchzuatmen, aber die Luft, die ich in meine Lungen sog, schien diese nur halb zu füllen, als befände ich mich in mehreren tausend Metern Höhe. Auch im Sitzen wurde mir nicht besser. In der Herzgegend empfand ich ein Kräuseln, ein Strudeln. Ich wunderte mich, daß ich nicht in Panik geriet. Wenigstens konnte ich das tiefere Schwarz der Fichtenstämme von dem Graudunkel der Zwischenräume unterscheiden. Ich war kurz davor, ein Gebet zu sprechen oder ein Lied zu summen, nur um dieser Stille, diesem Schweigen zu entkommen. Plötzlich erschien es mir unglaubwürdig, daß ich da allein mitten im nächtlichen reglosen Wald saß, ich, die einzige Unruhe in einer stummen Welt. Ich glaubte zu träumen oder den Verstand zu verlieren. Ich erschrak vor meinem Lachen.
Und da, als gewährte man mir eine Gnade, gesellte sich eine Fliege zu mir. Sie umschwirrte meinen Kopf, und mir stand plötzlich eine Abbildung aus dem Physikbuch vor Augen: die Flugbahn des Elektrons um den Atomkern. 244
Die Fliege setzte sich auf meine linke Schulter — ich zuckte und hielt erschrocken inne. Hatte ich sie verscheucht? Die Fliege durfte mich nicht verlassen, sie sollte bleiben, das einzige Lebewesen, das mit mir wachte, meine einzige Gefährtin. Als ich sie wieder spürte, hielt ich still und genoß ihre Berührung wie eine Zärtlichkeit. Haben Sie je eine Fliege über Schulter und Rücken krabbeln lassen? Während ich fürchtete, von der Fliege über kurz oder lang im Stich gelassen zu werden, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß mir die Welt, so, wie sie war, abhanden kommen könnte.
Das war nicht die Angst vor dem Atomkrieg, dem Weltuntergang. Es war die Angst, alles, worauf ich mich bezog, könnte mir verlorengehen; das Weltgefüge, dem ich mich durch Denk- und Gefühlsmutation angepaßt hatte, verschwände von einem Tag auf den anderen und ließe nichts weiter zurück als eine große Leere. So, wie ich gefürchtet hatte, zu spät zur Armee eingezogen zu werden, so fürchtete ich nun, bevor ich selbst zum Schuß kommen würde, könnte alles Großwild erlegt sein und für mich blieben nur Mäuse und Ratten übrig.
Es war ein absurder Gedanke, aber nicht weniger absurd, als nachts nackt im Wald zu sitzen, froh und dankbar über die Gesellschaft einer Fliege.
Allein der Schmerz über dem Herzen und die Fliege schienen zu existieren, die einzige Wirklichkeit, über die ich verfügte, das einzige, was meine Gedanken und Gefühle davor bewahrte, sich in der Schwerelosigkeit zu verflüchtigen.
Dort, wo der Schweiß noch nicht getrocknet war, spürte ich den Lufthauch und fröstelte. Mit leerem Kopf, leerem Herzen und ergeben in mein Schicksal kroch ich zurück ins Bett.
Als ich erwachte, war es warm, und Fliegen, ein ganzer Schwarm, summten über mir.
Wahrscheinlich halten Sie mich nun tatsächlich für verrückt oder zumindest für etwas wunderlich. Von heute aus gesehen, gehört dieses nächtliche Erlebnis zu den wenigen Episoden, bei denen ich im Rückblick Mitleid mit jenem Menschen empfinde, der ich damals gewesen bin.
Nun aber zurück nach Altenburg, wohin ich Anfang September 88, noch vor Beginn meines letzten Studienjahres, fuhr.
Über Flieders» Julie«-Proben zu schreiben wäre ein eigenes Kapitel wert. Lesen Sie noch einmal Strindbergs Stück und achten Sie auf die Brüche, auf das unentwegte Bleiben — Gehen — Bleiben — Gehen. Es war in einem Maß von mir selbst die Rede, daß es schon unheimlich war.
Nicht weniger unheimlich war mir die Erkenntnis, wie eng verwandt Regieführen und Schreiben sind. Von Flieder lernte ich, daß ein Dialog nicht dazu dient, etwas mitzuteilen, sondern die Verhältnisse unter den Figuren zu klären. Daß es egal ist, worüber man spricht, wenn man nur weiß, was man erzählen will. Daß es sich rächt, wenn man auch nur eine einzige Beziehung vernachlässigt, daß kein Gegenstand und kein Schritt in der Choreographie vergessen werden darf.
Gibt es etwas Schöneres als eine plausible Figur? Könnte ich im Schreiben je Flieders Niveau erreichen, würde meine Novelle ein Meisterwerk. Warum aber, fragte ich mich beunruhigt, ist Flieder kein berühmter Regisseur?
Doch was wären Flieders Proben ohne Michaela gewesen! Ich durfte Michaela anschauen, beobachten, studieren, und niemand, auch sie nicht, konnte mir daraus einen Vorwurf machen. Sie mit Blicken zu verschlingen gehörte ja zu meinen Aufgaben. Ich träumte davon, Michaela und ich seien ein Paar. Diese Vorstellung kollidierte allerdings mit meinem Wunsch, so bald wie möglich auszureisen. Nur aus Rücksicht auf Mutter, nur weil es mir besser schien, das Studium abzuschließen, nur weil ich von Vera seit ihrer Ausreise nichts gehört hatte, schob ich diesen Schritt vor mir her. Und ich blendete aus, daß Michaela Tag für Tag mit Max (unserem Jean) kam und ging. Sie hatte einen Sohn aus erster Ehe, der manchmal in der Kantine auf sie wartete, wo er malte oder mit der Küchenhilfe Karten spielte.
Zu Beginn der zweiten Woche, abends, nach der Probe, umarmte ich Michaela wie immer zum Abschied, unsere Wangen berührten sich. Ich wollte mich wieder aufrichten, sie jedoch hielt mich fest — eine Ewigkeit, wie mir schien. Danach stieg Michaela wie immer zu Max in den Wartburg. Ich glaubte, diese lange Umarmung sei Teil jener verwahrlosten Intimität, die für das Theater so typisch ist. Am nächsten Abend jedoch wiederholte sich dieser Abschied. Diesmal hielt auch ich Michaela fest, so lange, bis sie nicht mehr auf ihren Zehenspitzen stehen konnte. Am Mittwoch begegneten wir uns nach der Abendprobe auf dem Flur vor der Kantine, besser gesagt, wir liefen aufeinander zu. Ich hatte noch meine Schreibkladde in der Hand. Es wäre zuviel, wenn ich behauptete, bereits an ihrem Gang alles erkannt zu haben, doch es ist keine Übertreibung zu sagen, daß wir uns buchstäblich in die Arme flogen — wir hatten Glück, nicht über das wellenschlagende Linoleum zu stolpern.
«Kannst du Auto fahren?«war das erste, was Michaela mir ins Ohr flüsterte. Sie bat mich zu warten, ging in die Kantine und kehrte mit dem Schlüssel für den Wartburg zurück. Er gehörte ihr, eigentlich ihrer Mutter, aber die hatte auch keine Fahrerlaubnis.
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