Er gratulierte Tim Hartmann, machte händeschüttelnd eine Runde um den Tisch und lachte auch über irgendwelche Bemerkungen, was bei ihm von Husten kaum zu unterscheiden war. Nur setzen wollte er sich nicht. Seine Entourage, die sich aus dem Schauspiel, vor allem aber aus dem Ballett rekrutierte, erwartete ihn zwei Tische weiter.
Ich trank und rauchte fast ununterbrochen und fühlte mich zum ersten Mal in der Kantine heimisch. Die Regieassistentin machte mich mit Antonio bekannt, einem jungen Chilenen aus Berlin. Antonio fragte, was ich denn von der Inszenierung halte, die er selbst als» Langweiler «bezeichnete. Antonio sagte, ich solle mich zu ihm setzen, und zog für mich einen Stuhl an den Tisch von» Jonas«, wie er den Intendanten nannte. Wie einfach alles war. Antonio bot mir Wodka an. Alle am Tisch tranken Wodka.
Jonas brachte mit seiner Behauptung, Ehe und Treue seien widernatürlich, sinnlos und lächerlich, die meisten Frauen gegen sich auf, was ihn nicht daran hinderte weiterzureden. Fortwährend strich er sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah von einem zum anderen. Als sich unsere Blicke trafen, nickte ich unwillkürlich, als stimmte ich ihm zu. Ich ärgerte mich darüber, und das um so mehr, als Claudia Marcks, die Schauspielerin, Jonas laut widersprach, ihn sogar auslachte, was dieser halb beleidigt, halb als Bestätigung seiner Frauen-Theorie hinnahm.
Ich bewunderte Claudia Marcks. Mir war es nie gelungen, mit ihr zu sprechen, ich hatte es nicht mal geschafft, in ihre Nähe zu kommen. Alles an ihr war schön und begehrenswert, besonders liebte ich ihre Hände. Sie führten ein Eigenleben, das niemand außer mir zu beachten schien. Plötzlich wollte ich nichts anderes, als heute, morgen oder dereinst von diesen Händen berührt zu werden und sie selbst zu küssen. Und ich war seltsam gewiß, daß diese Stunde nicht mehr weit entfernt sei.
Ich fragte Jonas, ob er das, was er da von sich gebe, denn selbst glaube.
Er starrte mich aus geröteten Augen an.»Du geh erst mal ficken!«rief er.»Du geh erst mal …«Jonas wiederholte den Satz zweimal, dreimal, viermal, so lange, bis es in der Kantine still geworden war.
Statt ihm, wie es Claudia Marcks getan hatte, ins Gesicht zu lachen, dachte ich an Nadja. Und dann hörte ich mich auch schon sagen:»Warum sollte ich denn?«
Alle stimmten in das Gelächter ein. Auch Claudia Marcks und Antonio. Antonio sagte, er bewundere die reinen Geistesmenschen, Menschen wie mich. Es war die Hölle.
Lange nach Mitternacht fragte mich die Regieassistentin, ob sie und Antonio bei mir übernachten könnten, das Bett im Gästezimmer sei doch so breit, sie hätten den Zug verpaßt. Antonio und sie schliefen keine Minute.
Am Rand zu liegen und auf die beiden neben mir zu hören erschien mir als Sinnbild des Ausgestoßenseins. Jonas hatte mich vor allen gedemütigt, und morgen würde ihm Antonio von dieser Nacht erzählen. Wehrte ich mich nicht, weil ich meine Anstellung, meine Dramaturgenstelle, nicht gefährden wollte? Wie sich das Leben an einem rächt, dachte ich, wenn man sich etwas anderes von ihm wünscht! Mein Leben war das Erzählen. Und zum Erzählen brauchte es Distanz und einen kalten Blick. Wie hatte ich das nur vergessen können! 243
Mitte Juni, wenige Tage nach Veras Ausreise, fuhr ich wieder nach Altenburg. Eine unangenehme Erfahrung mehr — und was sonst sollte mir das Theater bringen? — würde mich in dem Wunsch bestärken, Vera zu folgen.
Die Chefdramaturgin überreichte mir ein orange leuchtendes Büchlein, dessen Empfang ich ihr quittierte. Von unten nach oben las ich: Bibliothek Suhrkamp/Fräulein Julie/August Strindberg. Wohnen sollte ich diesmal nicht im Gästezimmer, sondern im» Wenzel«. Flieder, der Regisseur, war noch nicht angereist.
Abends im Hotelzimmer öffnete ich zum ersten Mal Veras kunstlederne Bestecktasche, sortierte die Scheine und legte sie in verschiedenen Reihen auf dem Fußboden aus. Bei dreitausend Mark, mehr als das Stipendium eines Jahres, hörte ich auf zu zählen!
Vom Bett aus sah ich dann zu, wie die Scheine, bewegt vom Luftzug, der durch das offene Fenster kam, sich übereinanderschoben, als wollten sie sich paaren, und lauschte schließlich mit geschlossenen Augen ihrem Rascheln. Als ich erwachte, waren die Scheine im Zimmer verstreut, in einer Ecke hatte sich ein kleiner Laubhaufen gebildet.
Ich duschte, setzte mich im Restaurant an den gedeckten Frühstückstisch und ging, sobald es zehn geworden war, ins Lindenau-Museum. Danach spazierte ich durch die Stadt, umrundete den Großen Teich, suchte das Haus von Gerhard Altenbourg und aß mittags im» Ratskeller«. Danach legte ich mich in den Park, las und ging abends ins Kino. So oder ähnlich verging die ganze Woche.
Am liebsten saß ich in dem Gartenlokal am Großen Teich und stellte mir vor, ich wäre in Westberlin am Landwehrkanal und erholte mich zusammen mit Vera von den Interviews, die ich den ganzen Tag über hatte geben müssen.
Am Freitag fuhr ich nach Dresden zu meiner Mutter. Obwohl ich nicht unangekündigt kam, erwartete sie mich weder auf dem Bahnhof, noch traf ich sie zu Hause an. In der Wohnung deutete nichts auf ein Willkommen hin, kein Zettel, kein Topf im Kühlschrank, nicht mal mein Bett war bezogen.
Als Mutter kam — ich wisse doch, daß es manchmal später werde —, sprachen wir nur über Vera. Vera hätte schon viel eher gehen sollen, sagte Mutter, von Anfang an sei ihr alles verbaut gewesen, wertvolle Jahre habe man ihr geraubt. Ich sagte, daß Vera ihr Leben genossen und mehr über Theater gelernt und mehr Bücher gelesen habe als ich im Studium. Wie ich so reden könne. Das seien ja alles nur Notlösungen gewesen! Vera habe an die Schauspielschule gehört und ans Deutsche Theater nach Berlin! Ich habe ja keine Ahnung, wie verzweifelt Vera manchmal gewesen sei.
Zum Abendbrot legte Mutter einen Camembert unausgewickelt auf den Tisch, ich öffnete eine Fischbüchse, das Brot war alt. Ich litt. Diese Lieblosigkeit sich selbst und mir gegenüber war neu.
Am Montag kam ich zu spät zur Probenbesprechung. Es war ein schlechtes Omen, daß auch Flieder einen Pferdeschwanz trug, selbst wenn er nur aus den Resten seines Haarkranzes gebunden war und grau und dünn über den Kragen hing. Erwartungsgemäß hatte er sich nicht nach mir umgedreht, als ich nach dem Anklopfen eingetreten und zum Tisch gegangen war. Ebenso erwartungsgemäß ließ er sich meine Vorstellung wiederholen. Wie aber erschrak ich, als ich Claudia Marcks am Tisch sitzen sah. Sie hatte nicht auf der Besetzungsliste gestanden.
«Das also ist der Enrico«, sagte Flieder,»Enrico wird uns hier bei allem helfen. Das hoffe ich zumindest. Schön, Enrico, daß du da bist. «Niemand lachte.
Außer Claudia Marcks saßen nur die Petrescu (Kristin, Köchin, 35 Jahre) und Max (Jean, Bedienter, 30 Jahre) am Tisch. Flieders Assistentin, eine hoch aufgeschossene junge Frau mit kurzen Haaren, die zugleich die Bühnenbildnerin war, hockte abseits auf der Lehne eines Stuhls, winkte mir zu und sog an ihrer» Karo«.
Was folgte, ähnelte eher einem Seminar als einer Probe. Und ich war nicht vorbereitet. Mir schien, Flieder referiere allein für mich jenes Buch, das er an der Pforte mit einem Zettel versehen hinterlegt hatte. Dabei ging er auf und ab, kicherte und gewann mehr und mehr das Aussehen eines Fauns oder Satyrs. Seine Assistentin wiederholte, ergänzte, sprach von behavioristischer Verhaltensforschung und kniff bei jedem Zug aus ihrer Zigarette die Augen zusammen.
In der Mittagspause setzte sich Claudia Marcks neben mich.»Kennt ihr euch?«fragte Flieder.
«Ja«, sagte ich. Claudia Marcks sah mich an.»Woher kennen wir uns denn?«
«›Undine‹, Premierenfeier, genau an diesem Tisch.«
«Oh, bitte nicht«, rief sie.»Da bin ich so blau gewesen, so blau, o bitte, das tut mir leid!«Wie zur Entschuldigung legte sie eine Hand auf meinen Unterarm und fragte fast ängstlich, ob ich an jenem Abend auch Brüderschaft mit ihr getrunken hätte?
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