Ich zog die Schreibtischschublade auf und entnahm meinen Schatz seinem Versteck. Ich war kaum mehr in der Lage, Geronimo zuzuhören. Meine Fingerspitzen schoben die Seiten akkurat übereinander. Mein Blick streifte ihn nur, als ich sagte, dieses Zeug sei es, womit ich mich über Wasser hielte. Ich überreichte meinem wichtigsten Leser mein Werk — und verzog mich in die Küche.
Als ich mit zwei Gläsern ins Zimmer zurückkehrte, saß Geronimo unverändert da. Endlich hob er den Kopf. Er hätte nichts sagen müssen, schon gar keine Adjektive anhäufen, er hätte mich nur so anschauen müssen und ungläubig den Kopf schütteln. Es war kein Erfolg — es war ein Triumph!
Nicht Vera und ihre Entourage, Geronimo war es, der mich zum Dichter machte. Ihm glaubte ich. Er sagte Sätze, die heute zu wiederholen lächerlich wäre, die aber damals meine Weihe — und seine Unterwerfung bedeuteten. Er konnte wohl nur derartig loben, weil er selbst den Boden unter den Füßen verloren hatte.
An diesem Abend sprach Geronimo ausschließlich über meine Gedichte, als müßte er mich davon überzeugen, wie außerordentlich sie seien. Und ich mühte mich, sein Pathos, so gut es ging, zu erwidern. Nun konnte ich ihm sagen, wie übermächtig ich ihn einst erlebt und wie sehr ich ihn zum Freund begehrt hatte.
Es gibt eine Art Offenheit, die jeden Rest von Distanz als Makel empfindet. Meine Mutter fragte mich nach dem sonntäglichen Frühstück, ob Johann geweint habe.
Wir sprachen unaufhörlich miteinander, und unaufhörlich fürchtete ich, ein falsches Wort, ein zu schnelles Nicken könnte unsere Euphorie in Spuk verwandeln. Als der Schaffner die Zugtür hinter ihm zuwarf, war ich wie erlöst, als sei erst jetzt sein Lob unwiderruflich.
Obwohl jenes Wochenende geradezu als Gründungsdatum unserer Freundschaft angesehen werden könnte, schien es mir immer eine Frage des Takts, Geronimo niemals an diesen Abend zu erinnern.
Zu Hause nahm ich mir die Schreibmaschine und begann meinen ersten Brief an ihn.»Lieber Johann!«tippte ich, ließ eine Leerzeile folgen und legte die Finger, wie ich es im Schreibmaschinenkurs gelernt hatte, auf die Tasten.»Geliebter Johann!«sagte ich leise.»Mein geliebter Johann!« 155
Im Vertrauen darauf, daß Sie mir weiterhin zuhören werden, grüße ich Sie herzlich,
Ihr Enrico T.
Lieber Jo!
Das Wochenende war ein Alptraum! Jetzt, da die Panik vorbei ist, komme ich mir selbst etwas lächerlich vor. Aber zuerst die gute Nachricht: Wir haben für die Redaktion ein neues, wenn auch desolates, um nicht zu sagen baufälliges Domizil! Ein Wunder! Nachdem selbst Freds Alteingesessenen-Beziehungen wirkungslos geblieben waren und außer dem Galluswirt — der seine Gäste bei Laune halten muß — es niemand wagte, uns Hoffnungen zu machen, half abermals der Baron. Allmählich gewöhne ich mich daran.
Wann wir endlich verstehen würden, wozu eine Zeitung da sei, Anzeigen und Lokalnachrichten! Er stelle uns selbstredend sämtliche Zuschriften zur Verfügung, die auf seine Immobilienanzeigen eingegangen seien. Leider komme für uns nur eine in Betracht. Das klang wie Engelsmusik. Nicht viel hat gefehlt, und der Baron hätte sich bei uns entschuldigt, weil er sich selbst in eine herrschaftliche Villa eingemietet hat, ohne sie vorher uns anzubieten.
Von seinem Angebot bis zu unserem Eintreffen vor der Nummer 47 in der Moskauer Straße 156, zwischen Weibermarkt und Jüdengasse, war kaum eine halbe Stunde vergangen. Wir erwarteten den Eigentümer wie Kinder die Bescherung — und wurden böse überrascht. Wer erschien? Piatkowski! Er und eine hochaufragende Gestalt.
Piatkowski keuchte, als hätte er die hochaufragende Gestalt eigenhändig herbeigeschleppt. Nicht einmal als Piatkowski und der Baron sich die Hände schüttelten, wollten wir glauben, daß er es gewesen sein sollte, auf den wir gewartet hatten.
Der Baron, geschmeidig vor lauter Unternehmungslust, wiegte sich in den Hüften und forderte Piatkowski auf, voranzugehen. Zunächst müsse das Haus seinen Kunden gefallen, danach sähe man weiter. Die hochaufragende Gestalt rief, er sei sich mit Herrn Piatkowski bereits einig. Wir sollten das bitte zur Kenntnis nehmen!
Die hochaufragende Gestalt besaß eine geschulte, weithin tragende Stimme. Hinter dem Schaufenster des privaten Haushaltswarengeschäftes, das sich im Erdgeschoß befindet, erschienen nacheinander die Köpfe von Vater, Mutter und Tochter. Sie betrachteten die Szenerie, ohne meinen Gruß zu erwidern. Wer an uns vorüberging, verlangsamte die Schritte.
Der Baron kümmerte sich um niemanden, weder um Freds Gerede von Einheimischen und Dringlichkeit noch um das Getöne des anderen. Er lächelte Piatkowski an.
Die hochaufragende Gestalt, da sie uns nicht hatte abschütteln können, redete nun ungemein freundlich und verbindlich auf Piatkowski ein, hielt sich an dessen Seite und schlüpfte als erste in das Dunkel, das sich hinter dem geöffneten Flügel des Holztores auftat. Seine Stimme hallte, als er die uralte Pflasterung pries.»Phantastisch!«rief er.»Phantastisch!«Seine Schritte entfernten sich und kehrten schnell zurück.»Was ist?«fragte er Piatkowski.»Warum kommen Sie nicht?«
Der Baron war vor Piatkowski stehengeblieben, hatte ihn angesehen und dann uns gemahnt:»Halten Sie die Augen auf, bei Mängeln werden wir Mietminderung beanspruchen.«
Das Haus besteht ausschließlich aus Mängeln, die hochaufragende Gestalt jedoch fand alles faszinierend, hinreißend und» eine spannende Geschichte«: die Hufschmiede im Hinterhof, in der unter zerbrochenen Dachziegeln, Staub und Katzenkot ein Amboß samt Holzfuß stehen geblieben ist, das Fachwerk — unbedingt erhaltenswert — und immer wieder das Pflaster, das bei jeder Erwähnung um ein Jahrhundert alterte.
Piatkowski lehnte am Treppenaufgang und lutschte Drops. Das Haus hatte seinen Schwiegereltern gehört, einmal habe es einen Gemüseladen hier gegeben mit den besten Beziehungen zur Altenburger Bauernschaft und bis weit hinein ins Sächsische. Sie selbst, Piatkowski und seine Frau, hätten nichts davon gehabt. Ständig habe es Streit mit den Leuten wegen der Miete gegeben. Jetzt gehöre die Bruchbude vier Geschwistern, da bleibe sowieso nichts hängen. Unten die Haushaltswaren, ganz oben, unterm Dach, ein Ehepaar, Flüchtlinge damals, aus Schlesien, die Stadt sei voll von denen.»Ah«, sagte die hochaufragende Gestalt,»Schlesien«, und knöpfte den Mantel zu.
Das Treppenhaus ist zugig und dunkel wie ein Kamin, das Licht funktioniert nicht. In der ersten Etage, von einem kleinen Vorraum aus, führen zwei Türen zu den zur Straße gelegenen Zimmern. Das rechte und kleinere ist doppelt so groß wie unsere Redaktionsstube. Die linke Tür öffnet sich auf einen beinah saalartigen Raum mit hohen Fenstern, an den sich ein weiterer, fast ebenso großer Raum anschließt.
«Bei solchen Fenstern können Sie ja gleich auf die Straße ziehen!«Der Baron steckte eine Fingerkuppe in den Mund und hielt sie vor die Scheiben, als wollte er die Windrichtung bestimmen.»Das ist ja eine schöne Bescherung, die Sie uns hier anbieten«, rügte er Piatkowski, der tief durchatmete und zweimal nickte.»Ich nehm es! Wie es ist! Mit dem Laden unten! Abgemacht, Herr Piatkowski?! Abgemacht!?«Die hochaufragende Gestalt gestikulierte wild.
«Schauen Sie erst mal, was noch kommt«, antwortete Piatkowski und warnte Fred, der eine verzogene Tür mit Gewalt aufgedrückt hatte.»Dort wird’s gefährlich, da lassen Sie mich mal!«
Wir betraten einen langen fensterlosen Gang. Nach links öffnet sich eine Tapetentür in den Vorraum, so daß man im Kreis laufen kann. Auf der rechten Seite liegen Kammern — Stauraum, wie Fred befand.
Plötzlich wurde es wieder hell. Der Gang endet an einem Zimmer, dessen Fenster auf den Hof hinausgehen, dahinter die Rückseiten der Markthäuser.
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