Sie bewohnte in der Dresdner Neustadt eine Dachwohnung im Hinterhaus, zu dem kein Vorderhaus existierte. Da nur die Wohnungstür eine Klingel hatte und um acht alle Tore und Türen verschlossen wurden, mußte man sich abends oder nachts irgendwie bemerkbar machen. Veras Nachbarn revanchierten sich, indem sie bei ihr morgens unter irgendeinem Vorwand klingelten und gegen die Tür hämmerten. Oder sie klauten ihr Wäsche von der Leine. Oft haben wir uns im Dunkeln unterhalten, weil einer ihrer Verehrer auf der Straße krakeelte und, nachdem er sich Mut angetrunken hatte, versuchte, über den Zaun zu klettern.
Von einem langen Flur, in dem eine kleine Anrichte die Küche ersetzte, gingen zwei winzige Zimmer ab.
Im hinteren trug mir Vera ihr Repertoire für die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule vor. Die Seeräuberjenny war immer dabei. Ich liebte ihre Auftritte in dem engen Raum, fürchtete aber jenen Augenblick, in dem sie verstummte; sollte ich in Tränen ausbrechen oder applaudieren?
Natürlich fällt es mir schwer, von Vera zu erzählen, ohne das, was später geschah, bereits vorgezeichnet zu sehen. So selten wir uns trafen, wenn sie» jemanden hatte«, so unzertrennlich waren wir in den Tagen und Wochen dazwischen. Sie führte mich ein in das, was man Szene nannte. Ich war doppelt gern gesehen: einmal als Bruder, den man hofierte, um ihr zu gefallen, zum anderen als leibhaftiges Zeichen dafür, daß Vera wieder frei und zu haben war.
Ich wußte nie, wann Vera mich zu sich bitten, wann sie mich wegschicken würde. Ich brach oft mit ihr, holte aber trotzdem weiter die Töpfe ab, in denen meine Mutter ihr hin und wieder Essen brachte.
Tauchte Vera dann wieder auf, sie wartete meist vor der Schule, machte sie mir Vorwürfe, warum ich mich nicht mehr bei ihr sehen ließ.
Vera lebte ein Leben, wie ich es auch bald führen wollte, eine ununterbrochene Folge von Ausstellungen, Lesungen, Feiern, Aufführungen und nächtlichen Wanderungen. Meine Kleidung würde ebenfalls nach Atelier riechen, ich würde schreiben, was ich wollte, um eines Tages, wenn ich den DDR-Mächtigen zu gefährlich geworden wäre, in den Westen abgeschoben zu werden, in den Westen, wo meine Bücher bereits erschienen waren und wo ich zusammen mit Franziska das Leben genießen, lieben, schreiben und reisen würde.
Die Schulzeit galt es zu überstehen. Ich überlegte, was zu sagen sich lohnen würde, um Reibung und damit Stoff zu gewinnen. Ein beschreibungswürdiges Erlebnis mußte her! Sollte ich vielleicht» Schwerter zu Pflugscharen «an die Tafel malen?
Im Januar 80 löste ein mit roter Farbe an die Mauer neben dem Haupteingang gepinseltes» Karl und Rosa leben «Panik aus. Ich sah nur noch den grauen Stoff, mit dem die Aufschrift verhängt worden war, als stünde die Enthüllung einer Gedenktafel bevor. Alle gerieten ins Visier, gerade auch jene, die als überzeugt galten. (Verstehen Sie, was ich mit»überzeugt «meine? Also unsere» Roten«, die von der DDR Überzeugten.)
Was mich abhielt, die Tat auf mich zu nehmen, war allein die Furcht, der wahre Urheber könnte sich zu erkennen geben. Doch wurde nie eine Täterin oder ein Täter ruchbar. Zumindest hörte ich nichts davon. Die Schrift wurde umgehend entfernt, ihre Spuren allerdings avancierten zu einer Art Menetekel. Die einen wähnten den Spruch links oben, andere glaubten, die vier Worte über die ganze Mauer verteilt und statt eines Ausrufezeichens Hammer und Sichel erkennen zu können. Allein die Mauer zu betrachten galt schon als Akt des Widerstands. Immer wieder versammelten sich Grüppchen wie zufällig davor. Gesehen habe ich nie etwas.
Ich erwähne diese Mauerepisode, weil die Erinnerung an sie Jahre später zur Keimzelle für einen Roman werden sollte.
In der Hoffnung zu provozieren heftete ich ein Gedicht an die Wandzeitung — einem» Frühvollendeten «war das in seiner Schule zum Verhängnis geworden. Myslewski riß mein Blatt samt Reißzwecken herunter und stellte mich vor der Klasse zur Rede. Er war in die Falle getappt. Gerade dieses Gedicht sollte in einer Schüler-Anthologie veröffentlicht werden. 147Ob ich das, worum es mir ging, nicht auch einfacher hätte sagen können, fragte er und ließ unter allgemeinem Gelächter das eingerissene Blatt vor mir auf die Bank segeln.
Die bei uns erschienenen Ehrenburg-Memoiren boten Gelegenheit, nach den Stalinschen Lagern zu fragen. Die Lager, bekam ich zu hören, seien Auswüchse der längst überwundenen Phase des Personenkultes gewesen und bereits 1956 von der KPdSU verurteilt worden.
Vergeblich suchte ich nach etwas, was zu tun oder zu lassen wirklich lohnend sein würde.
Meine Hoffnung war die Armee!
Seit der Musterung, seit ich das erste Mal von Uniformierten befragt worden war, wußte ich, wo ich finden würde, was ich mir wünschte.
Im Wehrkreiskommando fiel mir sofort etwas ein, dort kamen die Ideen von allein. Kein anderer Ort besaß so viel Poesie, so viel Unausweichlichkeit. Ich glaube, ich verglich den Wimpel des Armeesportklubs mit meiner Unterhose, denn so wie die Wimpel die Leere der Wand verdecken sollten, dabei aber deren Kahlheit erst recht zur Geltung brachten, wirkte die Unterhose an meinem Körper — oder so ähnlich. Eine ganze Reihe solcher Vergleiche notierte ich noch an Ort und Stelle. Uniformen machten Leiden plausibel. Das war keine pubertäre Empfindlichkeit mehr, kein risikoloses Aussteigertum à la Neustadt oder Loschwitz 148, das war Kalter Krieg, das war Welttheater!
Der Höhepunkt der Musterung war ein Gespräch.»Einige hochgestellte Persönlichkeiten«, sagte der Offizier hinter dem Schreibtisch,»haben Pläne mit Ihnen. Große Pläne!«Im Interesse meiner weiteren Entwicklung lege er mir eine dreijährige Dienstzeit nahe …
In meiner Hochstimmung sah er nur Arroganz und drohte, nachdem ich nein gesagt hatte, recht unbeholfen, mir Abitur und Studium zu verwehren. Anschaulicher gelangen ihm die düsteren Schilderungen des Alltags jener Soldaten, die die Arbeiterund Bauernmacht enttäuscht hatten. Befriedigt registrierte ich die in seinen Mundwinkeln dicker werdende Spucke, den schnellen Lidschlag, die rotblaue Färbung seiner Gesichtshaut, die an den Nasenflügeln am intensivsten war, und verfolgte den Kuli in seiner Rechten, mit dem er das Morsealphabet auf der Tischplatte exerzierte. Um die literarische Abrundung meiner Vorstellung bemüht, sah ich mich in Unterhosen strammstehen, zitternd in der eisigen Zugluft, jedoch unbeugsam.
Glauben Sie mir: Seit der ersten Musterung freute ich mich auf die Armee.
Erwähnenswert ist vielleicht noch ein Intermezzo gegen Ende der elften Klasse, etwa vier Monate nach der Karl-und-Rosa-Episode, als mitten im Unterricht und ohne Vorwarnung die Türklinke krachte und die stellvertretende Direktorin meinen Nach- und Vornamen rief. Ich stand auf, sie winkte mich heran. Ich wußte sofort: Hier ging es nicht um einen Unfall meiner Mutter oder eine andere private Katastrophe.
Ich folgte ihr. Hinter den Türen brummelte der Unterricht. Treppauf, vorbei am Wandbild mit der elften Feuerbachthese von Marx, der zufolge die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Ich vertiefte mich in das Spiel der Wadenmuskeln unserer stellvertretenden Direktorin. Im Vorzimmer des Direktors tauschte ich mit der Sekretärin einen stummen Gruß. Später beschrieb ich den Geruch als eine Mischung aus Zigaretten, Bohnerwachs, Kaffee und Sperrholz, doch wahrscheinlich nahm ich das gar nicht wahr. Ich versuchte, meiner Aufregung Herr zu werden, indem ich die Sandalen der Sekretärin fixierte.
Geronimo hatte es nur mit dem Direktor zu tun gehabt. Auf mich warteten zusätzlich zwei Männer. Sie saßen nebeneinander an einem Tisch, der mit der Stirnseite an den Schreibtisch des Direktors stieß. Sie ließen sich Zeit mit dem Ausdrücken ihrer Zigaretten. Als sie aufblickten, grüßte ich auch sie.
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