Der Baron zog einen Zettel hervor und begann zu kritzeln.»Bevor wir den Druckauftrag erteilen, sollten wir Kosten und Gewinn bereits in der Tasche haben. «Robert blickte ihn wie hypnotisiert an. Das Ganze wird über Werbung finanziert, die den eigentlichen Stadtplan einrahmt.
Nach Abzug aller Kosten bleibe ein Gewinn von ca. dreitausend Mark übrig. Wir nickten anerkennend. Dazu kommt aber noch der gesamte Verkaufserlös. Und wer in Altenburg würde keinen Stadtplan mit den neuen Straßennamen wollen? Und warum nur Altenburg? Warum nicht Meuselwitz, Schmölln, Lucka, Gößnitz? Und wer sagt, daß es in Altenburg nur einen Plan geben muß? Plötzlich wurden aus den dreitausend dreißigtausend, sechzigtausend.»Sagen wir«, schloß der Baron,»wir reden von einem Reinerlös, der vierzigtausend bis achtzigtausend betragen wird, vierzig- bis achtzigtausend D-Mark! Nur ein bißchen Organisation. Das Geld, meine Herren, liegt auf der Straße. Und dir schenke ich diese Idee!«Damit überreichte er Robert Bleistift und Zettel und lehnte sich zurück.
Die Vorführung war beendet. Wir wußten nicht, was wir tun sollten, klatschen, danke sagen, Fragen stellen?
Dabei stand uns der eigentliche Urknall noch bevor. In Stimmung gebracht, glaubte ich mit einer eigenen Idee brillieren zu müssen und schlug vor, die Leute, die wegen der Anzeigen für den Stadtplan Läden und Betriebe aufsuchten, sollten auch nach Werbung für die Zeitung fragen. Robert nickte.
Im halboffenen Mund des Barons sah ich den Brei aus Kartoffeln und Würstchen.
«Wie?«fragte er und kaute hastig.»Sie haben keine Akquisiteure?«Ich schüttelte den Kopf.
«Keine Außendienstmitarbeiter, Klinkenputzer, oder wie immer Sie die nennen?«
«Nein!«beteuerte ich.
«Sie — «begann er und beeilte sich, den Bissen herunterzuschlucken,»Sie sitzen da in Ihrer Redaktion und warten, bis die Leute zu Ihnen kommen?«
Ich bejahte.
«Und Frau Schorba?«
«Eine Ausnahme«, sagte ich.
Der Baron brach in ein fürchterliches Gelächter aus und verschluckte sich dabei.
Ich kann Dir nicht den ganzen Abend schildern. Er endete merkwürdig. Denn plötzlich fiel Barrista ein, daß er sein Zimmer doch habe behalten können. Sein Aufbruch erfolgte abrupt.
Wir begleiteten ihn zum Wagen, einem roten Saratoga. Beim Abschied setzte er eine Mütze auf, die genauso aussah wie jene, die er Robert geschenkt hatte. Als er abfuhr, bog ein Taxi in unsere Straße ein, dem Michaela entstieg.
Zuerst erschrak sie, dann schimpfte sie, Robert gehöre längst ins Bett. Sie befühlte seine Stirn — er hatte tatsächlich erhöhte Temperatur. Den Dschungelstrauß verpflanzten wir in unseren größten Steinguttopf. Er steht nun auf dem Fußboden mitten im Wohnzimmer und duftet betörend.
Ich dachte an Stadtpläne und Akquisiteure, schlief unruhig und erwachte zerschlagen, als hätte mich die Nacht noch einmal so viel Kraft gekostet wie der gestrige Tag. Allein der Gedanke an Robert munterte mich auf.
Ich würde Georg herzlich begrüßen und ihn einfach bitten, mir seinen Anteil zu verkaufen. Zehntausend D-Mark wollte ich ihm fürs erste anbieten.
Michaela hatte Kopfschmerzen und blieb im Bett. Ich versprach ihr, möglichst bald wieder zurückzusein.
Als ich die Redaktion betrat, verlor ich alle Hoffnung: Georg, Jörg und Marion hockten einträchtig beieinander und tranken Tee. Es klingt lachhaft, aber ich kam zu spät. Ich hatte mein Glück vielleicht um eine halbe Stunde verpaßt.
Ihre Freundlichkeit, ja Herzlichkeit war grausam. Ich bekam eine Tasse und ein großes Stück von Marions Kuchen. Daß sie ausgerechnet heute Geburtstag hatte, schien mein Schicksal zu besiegeln.
Dann aber kam alles ganz anders.
Einer von Georgs Jungen heulte plötzlich im Garten laut auf, und Georg ging hinaus, um nach ihm zu sehen.
Jörg sagte über den Tisch hinweg, daß alles geklärt sei, ich brauche mir keine Gedanken zu machen. Georg wolle einen Schlußstrich, nichts weiter. Nun sei es an mir zu sagen, ob ich bereit sei, Georgs Anteil zu übernehmen und ab jetzt mit ihm, Jörg, gemeinsam den Kopf hinzuhalten und für alles geradezustehen. Marion wolle er nicht damit belasten, die Zeitung solle nicht ihr Familienbetrieb werden. Ich müsse das nicht sofort entscheiden, aber ihm fiele ein Stein vom Herzen, könnte ich mich zu einem Ja durchringen.
Schluck für Schluck trank ich meinen Tee und wartete, bis ich glaubte, ihm wieder mit fester Stimme antworten zu können.
Gleich ist es zwei, und ich bin hoffentlich müde genug, um endlich Schlaf zu finden.
Dein E.
Liebe Nicoletta!
Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Briefe Sie überhaupt erreichen, geschweige denn, ob Sie sie lesen. Solange aber keiner zurückkommt oder Sie mich nicht ausdrücklich bitten, Sie mit meiner Geschichte zu verschonen, will ich fortfahren.
Von Geronimo hörte ich lange nichts. Er war mit Beginn der elften Klasse nach Naumburg gewechselt, ans kirchliche Proseminar, dessen dreijährige Ausbildung offiziell nicht anerkannt wurde, so daß er de facto ohne Abitur blieb. Hin und wieder ließ er mich in Briefen grüßen, die er mit einigen Mädchen aus unserer Klasse wechselte.
Wundersamerweise war ich zu Beginn der elften Klasse in den Schulchor aufgenommen worden und nahm bereits im November, versteckt im ersten Baß, an einer Aufführung des» Deutschen Requiems «von Johannes Brahms teil. Unseren Musiklehrer wie auch die Proben mit ihm zu beschreiben ist hier nicht der Ort, obwohl die Stunden als Sänger — wenn auch als äußerst mittelmäßiger 144— die einzigen sind, an die ich mich ohne Scham erinnere.
Im Chor sah ich auch zum ersten Mal Franziska, von deren Existenz als Schülerin der neunten Klasse jeder wußte, sie, die Tochter von *** 145, den nicht nur in Dresden jeder kannte, der alles konnte und alles durfte.
Franziska sang Sopran, trug Jeans und enganliegende Pullover und hatte glattes schwarzes Haar. Nicht weniger aufsehenerregend als sie selbst war der Aufkleber ihrer Umhängetasche:»Make love, not war!«Im Chor setzte ich mich immer auf einen Stuhl am Gang, so daß ich dem Sopran schräg vor uns möglichst nahe kam. Es brauchte Monate, bis Franziska meinen Gruß erwiderte. Als sie mich aus heiterem Himmel fragte, ob ich nicht mit ihrer Klasse in die Tanzstunde gehen wollte, sie seien zu viele Mädchen, sah ich mich bereits am Ziel meiner Träume. Aus der Tanzstunde wurde jedoch nichts, und meine wiederholten Einladungen lehnte sie ab. Trotzdem lebte ich in der Gewißheit, Franziska eines Tages für mich zu gewinnen.
Ich versuchte mich in Gedichten und hatte mäßigen Erfolg bei Wettbewerben, die» Junge Dichter gesucht «hießen und Teil der» FDJ-Poetenbewegung «waren, ein Begriff, der mir damals weit weniger komisch vorkam als heute. Wir sollten freundlich schreiben, war eine der Maximen, an die ich mich erinnere, vorgetragen von einem tatsächlich freundlichen, ja geradezu heiteren älteren Herrn, dem angeblich ein vollkommenes Gedicht über einen bulgarischen Esel gelungen sein sollte, das ich aber nie zu lesen bekam.
Ich zählte nicht zu den großen Begabungen oder gar zu den Frühvollendeten (solche Bezeichnungen waren selten, doch nicht unüblich), besaß aber genügend Selbstbewußtsein, um felsenfest daran zu glauben, daß meine Zeit kommen würde.
Vera führte ein Boheme-Leben, wie es Mutter und Großvater nannten. Sie trug für die» Volkssolidarität «Mittagessen aus, wofür sie monatlich zweihundert Mark plus eine tägliche Mahlzeit und Versicherung erhielt; damit konnte man durchkommen. Da Vera wie ein Schlot rauchte und ständig Geld brauchte, stand sie in der Kunsthochschule Modell. Daraus wurde schnell eine Art Karriere.
Von Ende der Siebziger bis Mitte der Achtziger gibt es eine Vielzahl von Gemälden und Blättern Dresdner Künstler, auf denen eine Frau mit breitem katzenhaften Kopf und rotblonden Haaren zu sehen ist, oft nackt und verloren, doch auch als Faschingskönigin. Vera ist keine Schönheit, aber sie hat kein DDRGesicht. Ich kann Ihnen nicht erklären, was ein DDR-Gesicht ist, doch man erkennt es. 146Vera verfügte bald über genug Beziehungen und Geld, um sich elegant zu kleiden. Mitunter hielt man sie sogar für Westbesuch.
Читать дальше