Am nächsten Tag hoffte ich bei jedem Klingklong, das den Ansagen des Flughafenlautsprechers vorausging, unsere Namen zu hören. Doch ich hoffte vergeblich.
Erst viel später erkannte ich in dem Irrtum der Staatssicherheit den eigentlichen Reiz dieser unfreiwilligen Begegnung. Damals schämte ich mich fast dafür, wegen unbegründeter Verdächtigungen verhört worden zu sein, weshalb ich diesen Vorfall literarisch auch nie verwertet habe.
Ich grüße Sie herzlichst
Ihr Enrico
PS: Georg hört auf. Ich übernehme seinen Part. Kein böses Wort ist gefallen, Erleichterung auf allen Seiten. Wir suchen eine neue Bleibe.
Lieber Jo!
Gestern präsentierte mich Jörg als Kompagnon, er sprach ernst und mit ungewohnt langen Pausen, was seine druckreifen Sätze noch mehr zur Geltung brachte. Obwohl eigentlich alles, was er sagte, bekannt war, wagte niemand, dieses Ritual zu stören, und sei es nur durch ein gelangweiltes Gesicht. Marion saß aufrecht und nickte mir zu, als wollte sie sagen: Courage, Enrico, Courage! Ilona drückte ihre knochigen Knie aneinander und strich unentwegt über den Saum ihres karierten Minirocks. Sie und Fred sind offenbar besonders empfänglich für Ansprachen dieser Art und wetteiferten um den würdevolleren Gesichtsausdruck. Kurt, Freds Gehilfe und Ausfahrer und als Mitglied eines Photozirkels unser Filmentwickler und gelegentlicher Photograph, saß reglos mit verschränkten Armen da. Von ihm habe ich noch nie einen vollständigen Satz gehört. Wenn wir uns sehen, hebt er die Hand zum Gruß und beantwortet jede Frage mit» gut «oder» könnte besser gehen«. Vor Kurt ist alle Arbeit gleich. Würdest Du ihn bitten, die Fenster zu putzen, er besorgte sich auf der Stelle Eimer, Wischtuch und Zeitungen und würde erst aufhören, wenn alle Fenster glänzten. Die» Wismut «hat ihn ausgemustert und dem Krankenhaus als Nachtportier überlassen. Ich weiß nicht, wann er eigentlich schläft.
Außerdem hatten wir Pringel, einen unserer Freien, hinzugebeten. Ich habe ihn in Leipzig kennengelernt, er hat die Betriebszeitung der» Lufttechnischen Anlagen «gemacht, ein perfekter Korrekturleser. Weil er mollig und untersetzt ist, kann er die Beine nie längere Zeit übereinandergeschlagen halten, was ihm aber wichtig zu sein scheint; also wechselt er ständig, weshalb von ihm eine merkwürdige Unruhe ausgeht. Pringels Bart wuchert mit jedem Tag wilder, die Einhegung seines Kindergesichts.
Jörg sprach viel von Verantwortung und dem Risiko, das wir beide uns nun teilen würden. Er verpflichtete alle zu Diskretion, was Inhalte und Zahlen betreffe, insbesondere jetzt, da wir nächste Woche mit der Ankündigung des Erbprinzenbesuches aufmachen werden.
Jörg wird uns nach außen vertreten, ich werde mich um die Interna kümmern, das Redaktionelle entscheiden wir gemeinsam.
Dann war es an mir, ein paar Worte zu sagen. Kaum war ich fertig, fragte Fred, was sich denn ändern werde? Er war gereizt, weil Jörg ihn im Gegensatz zu Ilona nicht bei den Redaktionssitzungen dabeihaben will.
Obwohl ich niemandem eine Antwort schuldig blieb, war ich froh, als die Versammlung vorbei war.
Der Baron hat Jörg, Marion und uns für nächste Woche in den» Wenzel «eingeladen. Er bat mich inständig, diesmal meine Frau nicht wieder zu verstecken.
In seinem neuen Wagen — den alten darf ich behalten, bis ich mir einen eigenen kaufen kann 151— unterhielten wir uns noch eine Weile. Er müsse zugeben, die Spielregeln im Osten nicht zu kennen, aber je länger er über die Tatsache nachdenke, daß mir die Hälfte der Firma regelrecht aufgeschwatzt worden sei, desto weniger könne er umhin, einen Haken zu suchen, der, gerade weil er so dicht vor unserer Nase hänge, von uns übersehen würde. Ich erzählte, was ich wußte, daß Jörg und Georg ihre jeweils zehntausend Mark nicht gebraucht und bereits an ihre Mütter zurückgegeben hätten. Die zwanzigtausend D-Mark von Steen waren für den Baron neu. Je mehr ich erzählte, desto unglaubwürdiger kam ihm alles vor.
Es sei, wie es sei, sagte er schließlich, jedenfalls könne ich von nun an nicht mehr ruhig schlafen. Er wolle sich später keine Vorwürfe machen müssen, deshalb weise er mich im Augenblick größten Glücks darauf hin, daß bei einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts die Eigentümer nicht geschützt seien.»Sie haften mit dem letzten Hemd Ihrer Frau, mit der letzten Hose Ihres Sohnes!«Er beteuerte, daß er nichts unterstellen wolle, aber ich sollte mit so mancher Tücke der neuen Welt rechnen. Zuweilen reiche ein Dachziegel oder eine Bananenschale aus, um eine Firma zu erledigen. Sein Lösungswort laute: GmbH! Er malte die Buchstaben an die beschlagene Frontscheibe und dozierte weiter. Dann kramte er im Handschuhfach und überreichte mir als Abschiedsgeschenk einen dtv-Band. Die Gebrauchsspuren markieren das GmbH-Gesetz.
Sei umarmt
Dein Enrico
Liebe Nicoletta!
Als ich vorhin erwachte, verspürte ich eine seltsame Freude. Es war Vorfreude, und wissen Sie, worauf? Auf jetzt, auf diesen Augenblick, da ich Ihnen schreiben kann. Das ist, als setzten Sie sich zu mir. Und was ich Ihnen erzähle, erhält durch Sie eine ganz eigene Färbung. Ich teile meine Erinnerung mit Ihnen, nur mit Ihnen. Wem sonst sollte ich davon berichten. 152Und jedesmal bin ich kurz davor, Ihnen richtige Liebesbriefe zu schreiben. Es bedarf meiner ganzen Willensanstrengung, es nicht zu tun! Sie sind in mein Leben getreten, doch noch bevor ich überhaupt die Arme nach Ihnen ausstrecken konnte, wurden Sie mir schon wieder genommen. Ohne Sie fühle ich mich unvollständig, wie amputiert 153. Und ich habe Angst, daß Sie bei einem Wiedersehen alles vergessen haben werden […] und mich nicht einmal mehr erkennen. Damit ich kein Fremder für Sie werde, fahre ich fort.
Im Oktober 80, ich war in der zwölften Klasse, erhielt ich ein Telegramm. Geronimo fragte, ob er am Sonnabend bei uns übernachten dürfe, und nannte seine Ankunftszeit. Nicht, daß ich einen Besuch Geronimos erwartet hätte; aber überrascht war ich nicht.
Geronimo war noch gewachsen, er war jetzt eindeutig größer als ich, die Haare reichten ihm über die Schulter und glänzten so fettig, daß meine Mutter erstaunt fragte, ob es regne.
Er vertilgte zum Kaffeetrinken unseren Wochenendvorrat an Brötchen und kratzte das Honigglas aus. Meine Mutter überspielte ihren Fauxpas, indem sie ihm pausenlos Fragen stellte.»Johann«, begann sie jedesmal, als riefe sie ihn auf.
Nachdem er sich satt gegessen hatte, zogen wir uns in mein Zimmer zurück, das er mit keiner Silbe kommentierte, ja dessen Bücher- und Bilderpracht (letzteres Leihgaben Veras) er nicht einmal wahrzunehmen schien. Ich fragte, wen er denn in Dresden besuchen wolle — niemanden außer mir. Ob es ein Konzert gebe oder etwas im Theater — nicht daß er wüßte. Einsilbig beantwortete er alle Fragen, schwieg ich, blieb auch er stumm. Ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Meine Frage, wo er denn Theologie studieren wolle 154, entsprang derselben Verlegenheit wie meine anderen Erkundigungen.
Ich glaubte, er sei meiner Fragerei überdrüssig und blicke mich deshalb so wütend an. Und dann begann Geronimos Monolog. Er formulierte Aussagesätze, intonierte sie jedoch fragend, als erwarte er Widerspruch. Das Leben lohne nicht, wenn der Tod das Letzte sei.»Ohne Ewigkeit«, sagte er,»ist unser Leben sinnlos.«
Geronimo redete und redete, er schien sich über mich zu empören. Worauf wollte er hinaus? Ich sah nur seine Verzweiflung, die in der Behauptung gipfelte, es sei egal, ob er auf dem Stuhl sitzen bleibe oder sich aus dem Fenster stürze. Ich begriff, daß für ihn Gott und der Sinn des Lebens noch eins waren!
Mein Achselzucken steigerte seine Ungehaltenheit, er preßte die Lippen aufeinander und sah mich an, als wäre mein Schweigen noch jenes, in das er mich vor drei Jahren hineinmanövriert hatte. Was erwartete er denn von mir? So tat ich das, worauf ich vorbereitet war.
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