Ihr Aussehen enttäuschte mich nicht. Zumindest der Ältere mit seinen Triefaugen und den schwarzen zurückgekämmten Haaren entsprach meiner Vorstellung. Der andere wirkte freundlich, Typ Sportkumpel. Der Direktor saß wie ein Schiedsrichter da, die Handflächen aneinandergelegt. Er schien erschöpft und ratlos. Triefauge begann im Tonfall einer Zurechtweisung, sie seien in einer sehr ernsten Angelegenheit hier. Ich hoffte schon, sie würden mich stehen lassen wie einen Häftling, als sich der rechte Zeigefinger Triefauges kurz streckte, was soviel hieß wie: Setz dich!
In Gedanken ging ich meine Gedichte durch. Welches hatte sie hellhörig gemacht, welches hielten sie für das gefährlichste? Die Mappe, auf der die Hände des Sportkumpels ruhten, war stattlich. Wie waren sie da herangekommen?» Ja, Sie sprechen mit dem Autor, doch dieses Gedicht habe ich bereits verworfen«, wollte ich sagen, und es mit Mängeln an Reim und Rhythmus begründen. Kurz zuvor war mir Majakowskis» Ein Tropfen Teer «in die Hände gefallen, ein Insel-Bändchen, in dem er die Verfertigung seiner Gedichte beschreibt — eine empfehlenswerte Lektüre. Der Selbstmörder Majakowski schreibt ein Gedicht gegen Jessenins Selbstmord. Ja, ich plante, unseren Tschekisten Majakowski um die Ohren zu hauen.
Es klingelte zur Pause und wieder zum Unterricht, und ich verstand nicht, worauf ihre Fragen nach meiner Familie, insbesondere nach unserer Westverwandtschaft, hinausliefen. Ja, wir beabsichtigten, nach Budapest zu fliegen. Wenn sie plauschen wollten, bitte, ich hatte Zeit. Sie ersparten mir Chemie und Russisch. Sportkumpel und ich lächelten um die Wette. Er orderte bei der nächsten Tasse Kaffee ein Glas Selterswasser für mich, bot mir eine Zigarette an — um gleich darauf so zu tun, als falle ihm erst jetzt ein, daß ich ja ein Schüler sei.
Jeden Moment erwartete ich die schroffe Wendung, ich war neugierig, wie sie die Kurve zu den Gedichten kriegen würden. Mein erstes Bezirkspoetenseminar hatte mit der Frage begonnen, wer unter den Anwesenden die Meinung vertrete, Literatur müsse Opposition sein?
Damals war alles so schnell gegangen. 149Jetzt bot sich endlich Gelegenheit, den Fehler zu korrigieren. Wahre Literatur ist per se Opposition!
Mit dem Klingeln zur letzten Stunde fragte mich Sportkumpel, warum meine Mutter plane, gemeinsam mit mir, mit dem hier anwesenden Enrico Türmer, die Deutsche Demokratische Republik auf illegalem Wege zu verlassen?» Wir wollen nur wissen, warum. Beweise dafür haben wir mehr als genug.«
Wut und Scham würgten mich, ich kämpfte mit den Tränen. Sie hielten das für einen Volltreffer! Triefauge und Kumpel schossen tak tak tak tak ihre Fragen ab. Ich bekam Sätze zu hören, die ich in der Pause gesagt hatte, abfällige Äußerungen über den antifaschistischen Schutzwall, Vera wurde zitiert und als staatsfeindliches Element bezeichnet, Geronimo widerfuhr die Ehre, mehrmals erwähnt zu werden. Immer wieder Geronimo! Es war wie ein Fluch. Auch deshalb brauchte ich länger, als mir lieb war, bis ich wieder über eine feste Stimme verfügte. Ich glaube nicht, daß ich tatsächlich aufstand, doch kann ich mir meine Sätze nie anders als im Stehen gesprochen in Erinnerung rufen. Wir redeten gleichzeitig: Noch nie hätte ich auch nur im Traum daran gedacht, dieses Land zu verlassen. Nichts wäre schlimmer für mich, als von hier wegzugehen. Hier hätte ich meinen Platz, meine Wurzeln, meine Familie, meine Schule, mein Zuhause. Was sollte ich denn im Westen?
Ich plapperte wie aufgezogen, irgendwann waren sie verstummt.»Ich«, sagte ich,»will Schriftsteller werden, und gerade als Schriftsteller bin ich darauf angewiesen, dort wirken zu können, wo ich mich auskenne, wo die Menschen leben, die meine Erfahrungen teilen. Jemand wie ich verläßt nicht freiwillig ein Land, in dem Literatur das Wichtigste ist!«Verstanden sie meine Drohung überhaupt?» Was soll ich denn im Westen?«wiederholte ich in dem Bewußtsein, daß mir dieser Satz überzeugend gelungen war — es fehlten nur ein oder zwei Wörtchen zur Wahrheit: Was soll ich denn jetzt im Westen? hätte es heißen müssen, oder jetzt schon . Doch je mehr ich redete, um so deutlicher spürte ich, daß mir zwar nicht die Empörung, aber die Argumente langsam ausgingen.
Ich verteidigte Vera, eine Ausnahmebegabung, die an ihrer Entwicklung und Entfaltung gehindert werde, Vera, die nur offen ihre Meinung sage, worüber sie froh sein sollten.
Ich fügte einiges zur gesellschaftlichen Rolle der Literatur hinzu, bevor ich fragte, was sie denn zu dieser Unterstellung der Republikflucht berechtige. Und dann hörte ich mich, wie ich ihre Verdächtigung unverschämt nannte, unverschämt, ja, unverschämt! Eine Steigerung war nicht möglich. Sie müssen wissen, daß keine Rüge bei unseren Volkserziehern beliebter war als:»Ich schäme mich für dich! Ich schäme mich für euch!« 150
«Wir stellen hier die Fragen«, unterbrach mich Sportkumpel und lächelte wieder. Ich glaubte, sein Lächeln rühre daher, daß er eine Redensart zitierte, ein Scherz unter Eingeweihten.
Triefauge wollte wissen, warum meine Mutter behauptet habe, bei unserer Reise nach Budapest handle es sich um eine Auszeichnungsreise meiner Mutter, und ob sie vielleicht, ohne mein Wissen, Republikflucht plane? Die beiden registrierten mein Zögern, bevor ich antwortete. Dann schwiegen wir alle, bis der Sportkumpel dem Direktor zunickte.
Auf der Toilette wusch ich mir das Gesicht — meine Augen waren tränengerötet — und verließ die Schule in Richtung Café»Toscana«.
Zum» Toscana «muß vorerst genügen, daß ich nicht nur alle Caféhausszenen, von denen ich las, in jene Oase am Blauen Wunder verlegte (so könnte ich Ihnen heute noch jenen Tisch zeigen, an dem der Zögling Törleß gesessen hat), ich bevölkerte das Café auch mit berühmten Kollegen. Manchmal riefen sie meinen Namen und winkten mich heran. Manchmal tuschelten sie, weil sie nicht sicher waren, ob die wundervollen Verse, die von Hand zu Hand gingen, tatsächlich aus der Feder jenes Jünglings stammten, der dort einsam und bleich vor seinem Absinth saß. Manchmal blieb ich allein. Die Serviererinnen hielten mich wohl für einen Kruzianer, zu deren größten Vergnügungen es zählte, nach Vormittagsproben dort zu frühstücken. Selten mußte ich auf einen Platz warten.
An jenem Tag wurde ich von meinen berühmten Kollegen geradezu stürmisch begrüßt. Sie beglückwünschten mich zu der mutigen Rede, die ich gerade gehalten hatte. Der Empfang wie auch das Würzfleisch taten gut. Ich bestellte umgehend eine zweite Portion.
Allmählich gewann ich der Szene im Direktionszimmer einiges ab. Immerhin hatte ich mein erstes Verhör hinter mir. Das war so bedeutsam wie ein hundertseitiges Manuskript. Außerdem wußten diese Typen jetzt, daß hier ein Schriftsteller heranwuchs. Auf alle Nachfragen müßte ich ab jetzt nur» Stasi «flüstern und schweigen. Das Raunen, das bald die gesamte Schule erfassen, Franziskas Bewunderung entfachen und schließlich bis zu Geronimo dringen würde, genoß ich zusammen mit dem zweiten Würzfleisch.
Vera, es war die Zeit, in der sie mit Nadja lebte, umsorgte mich wie einen Schwerverletzten und begleitete mich abends nach Hause.
Meine Mutter hatte nicht nur ein dreistündiges Verhör hinter sich, sie war auch von zwei Herren in unsere Wohnung eskortiert worden. Die beiden hatten darauf bestanden, das von der Schule genehmigte Gesuch mit der Bitte um meine Freistellung zu sehen. Darin stand nichts von Auszeichnungsreise. Trotzdem waren wir irritiert, hatte meine Mutter doch, um Neid zu vermeiden, diese Formulierung erwogen. Wurden wir abgehört? Steckten Wanzen unter der Tapete? Die Lösung war banal. Der einzige Offiziersanwärter unserer Klasse hatte unlängst bei uns übernachtet, weil unsere Wohnung nicht weit vom Flughafen entfernt lag. Wir beide vertraten unsere Klasse in einem Jubelkomitee, das sich für die Ankunft eines ausländischen Bonzen bereithalten sollte (der aber nie gelandet war). Offenbar hatte die Wachsamkeit meines Mitschülers den Fehlalarm ausgelöst.
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