Ob das nicht übertrieben sei, fragte Michaela schroff, um sofort kundzutun, wie gern sie die Einladung annehme. Zuvor jedoch wolle sie nicht versäumen, ihm für die herrlichen Blumen zu danken, die in ihrer Art ebenso verführerisch seien wie die Namen dieser geheimnisvollen Gerichte.
Marion war aufgefahren, auch sie habe sich noch gar nicht für das größte Alpenveilchen Altenburgs bedankt.
«In Sachen Blumen«, resümierte Michaela,»kann dem Herrn von Barrista wohl niemand das Wasser reichen. «Es berührte mich seltsam, aus ihrem Mund seinen Namen zu hören. Von da an war eigentlich alles klar.
Während der Hauptgänge unterhielt er uns mit Reiseberichten. Im Herbst fliege er immer in die USA, an die Ostküste zum Lobsteressen. Er beschrieb uns die Lokale, die kleinen Häfen, die Landschaften und Lichtstimmungen, die Kürbisse auf den Feldern, das rote Laub … Seine Erzählung war ebenso bildhaft wie heiter und floß, von keiner Frage unterbrochen, unaufhörlich dahin wie eine Tafelmusik, in die gehüllt ich mich meinen Träumen von Dir hingab.
Als wir aufstanden und der Baron mir die Hand auf die Schulter legte — das Restaurant war längst geschlossen, man deckte bereits fürs Frühstück —, fragte er, ob es uns recht sei, diesen außerordentlichen Abend mit einem Cocktail ausklingen zu lassen. Die Bar sei nicht viel wert, aber in den vergangenen Wochen habe er Aufbauarbeit geleistet. Er würde sich glücklich schätzen, den Shaker für uns zu schwingen.»Warum nicht?«sagte Michaela wie aus der Pistole geschossen.
«Well, das ist ein Wort!«triumphierte der Baron. Untergehakt geriet ich an einen Tisch in der Bar, der gerade abgeräumt wurde.
In den folgenden Minuten widmete sich mir der Baron geradezu inbrünstig. Mehr als an das Gesagte erinnere ich mich an den melodiösen Klang seiner Sätze, der angenehm war, fast zärtlich. Ja, er umwarb mich förmlich. Und ich begriff: Er ist gar nicht so alt, wie er aussieht, er ist viel jünger!
Als ich erwachte, prusteten und kicherten Michaela und der Baron. Bis auf ein paar Kellnerinnen und einen spindeldürren Mann am Nebentisch, der sich über leere Gläser beugte, waren wir allein.
«Wir sprachen gerade vom Theater«, sagte er, als wäre ich nur kurz auf der Toilette gewesen. Eine Hand auf meinem Knie, lehnte er sich zu mir herüber. Ich roch sein eigenwilliges Parfüm. Es war fünf Uhr, für mich schon relativ spät. 164
Er nötigte uns in seinen Wagen. Michaela plapperte und kicherte vor sich hin. Während der Fahrt versuchte ich von hinten ihren Kopf zu halten, der in den Kurven von der Kopfstütze rutschte.
Beim Aussteigen sank sie mir in die Arme. Ich kam mir vor wie ein Lakai.
Kaum in der Wohnung, brachte die Übelkeit sie wieder zu Bewußtsein. Ich mußte ihr die Stirn über der Kloschüssel stützen, so schwach war sie.
«Bist du eifersüchtig?«fragte sie und meinte, mir dabei ganz besonders bedeutungsvoll in die Augen blicken zu müssen. Ich bat sie, sich nicht auf ihr Kleid zu knien, und versuchte, ihr den Mantel auszuziehen. Sie griff in die Manteltasche und hielt ein Kuvert hoch.»So viel ist mein Name wert«, rief sie,»tausend De-eM!«Das bekomme sie jetzt monatlich, als Geschäftsführerin von Fürst & Fürst Immobilien.
Als wir später nachzählten und ich sie fragte, ob sie wisse, worauf sie sich da einlasse, sagte Michaela: Sie vertraue mir, ich hätte sie schließlich mitgenommen, er sei mein Freund, nur deshalb habe sie eingewilligt, um wenig später hinzuzufügen:»Er ist so häßlich! Ist er nicht unglaublich häßlich?«
Findest Du ihn auch häßlich?
Ich küsse Dich
Dein Heinrich
[Nachfolgende handschriftliche Zeilen stehen auf einem neuen Blatt und sind undatiert. Da der vorangegangene Brief frühmorgens, unmittelbar nach der Rückkehr aus dem» Wenzel«, geschrieben wurde, ist auch hier der 12. 4. als Datum anzunehmen. Sie kamen als ein Fax — Auskunft V. T.]
Michaela hatte heute vormittag eine Fehlgeburt. Sie ist gleich ins Krankenhaus, ich erfuhr es erst ein paar Stunden später. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte nie davon gehört, aber das ist natürlich Unsinn. Ich fühle mich schuldig, weil ich sie in den» Wenzel «geschleppt habe. Ich verstehe nicht, daß Michaela nichts gespürt hat — sie hätte es doch wissen müssen! Es kann nur in Offenburg gewesen sein, nur dort!
Michaela möchte nicht einmal getröstet werden und ist sehr gefaßt. Zartfühlenderweise hatte man sie in ein Zimmer mit drei Frauen gesteckt, die eine Schwangerschaftsunterbrechung hatten, es habe keine anderen freien Betten mehr gegeben.
In gewisser Weise sind wir beide dankbar, daß uns die Entscheidung abgenommen wurde. Deshalb reden wir nicht darüber. Am traurigsten scheint Robert zu sein.
Verotschka, Schwesterchen!
H.
Lieber Jo!
Freitag, der Dreizehnte. Ich sitze hier im Bademantel, trinke Kaffee und genieße die Stille. Ich weiß gar nicht, was ich Dir zuletzt geschrieben habe. 165
Am Mittwoch hatte uns der Baron mal wieder eingeladen. Zu feiern gab es ja einiges, das Haus, meinen neuen Posten, Barristas Immobilienfirma.
Kaum waren wir eingetreten, hatte er Michaela erspäht und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Ich glaube sogar, er war überrascht, mich plötzlich hinter ihr zu sehen.
Marion, die extra beim Friseur gewesen war, wirkte mit ihren kurzen Haaren strenger. Sie war stark geschminkt und trug ein mattrotes Kleid, das unter den Armen spannte. Auch Jörg wirkte in seinem grauen, etwas zu großen Anzug fremd.
Barrista, in bester Stimmung, räumte für Michaela die Stirnseite, bat Jörg, einen Stuhl weiter zu rücken, und setzte sich auf dessen Platz. Mich dirigierte er neben Marion, die Michaela bereits Komplimente machte. Der untere Teil des Tisches blieb leer.
Es waren immer zwei oder drei Kellner gleichzeitig mit uns beschäftigt, junge Kerle, die mit den Tabletts auf der Schulter durch den Saal marschierten und die, wenn sie in atemberaubendem Tempo die Teller auftrugen, im gleichen Schwung und wie auf Kommando die halbrunden Silberabdeckungen entfernten. Einer von ihnen nannte darauf feierlich den Namen des Gerichts.
Zweimal, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste, wurde das Licht gelöscht. Mal tanzten Flammen auf den Schultern unserer Kellner, mal versprühten Wunderkerzen Funken, mal krachte ein Tischfeuerwerk. Es hätte nicht spektakulärer sein können. Michaela applaudierte jedesmal wie ein Kind.
Kaum hatten wir einen Schluck getrunken, schenkte uns der Baron nach. Er war mit sich und der Welt zufrieden und führte das Gespräch am sicheren Zügel.
Er entdeckte uns ein paar seiner Gewohnheiten. Er schlafe bis neun, unternehme dem Wolf zuliebe lange Spaziergänge und verbringe mehrere Stunden im Archiv, um sich danach mit einer Stunde im Museum zu belohnen. Zwar habe der Erbprinz, sooft sie über seine Visite gesprochen hatten, auf einen Museumsbesuch gedrungen, ihm, dem Baron, jedoch keine wirkliche Vorstellung vermitteln können, was ihm da bisher entgangen sei — nicht weniger als der Schlüssel zum Glück! Uns müsse man eigentlich an den Ohren ziehen. Warum wir ihn nicht gleich am ersten Tag an der Hand genommen und ins Museum geführt hätten, damit wäre ihm manch trübe Stunde erspart geblieben, die er ratlos über das Schicksal der Stadt gegrübelt habe.»Sie haben hier«, sagte er,»einen kleinen Louvre, wissen Sie das denn nicht?«Und schon sprach er wieder über die Madonna, die sich bei ihm langsam zur fixen Idee auswächst.
Wie um uns weitere Vorwürfe zu ersparen, begann Jörg, von Nietzsches Vater zu erzählen, der hier auf dem Schloß Lehrer gewesen war. Jörg kam aber nicht weit, weil ihn der Baron unterbrach. Er wolle auch einmal einen Beitrag für unsere Heimatseiten schreiben. Seiner allbekannten Collegemappe entnahm er ein paar Photos, die er zuerst Michaela und Marion reichte. Er hätte gar nichts weiter sagen müssen. Marion wollte sich abwenden, Michaela sah mich an, als vergleiche sie das Photo mit mir. Der Baron erklärte im Plauderton, es handle sich um Photos vom Februar 41. Auf dem Altenburger Markt — im Hintergrund erkennt man die Sparkasse und» Winkler Wurstfabrik mit Dampfbetrieb«— werden einer Frau vor versammelter Meute die Haare abgeschnitten. Ein Photo zeigt sie auf einem Pferdewagen sitzend, umringt von der Menge, vielleicht zweihundert oder dreihundert Schaulustige, vielleicht auch mehr. Auf dem zweiten Photo hat sie noch ein Kopftuch um, das Schild:»Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen!«berührt ihr Kinn. Auf dem dritten Bild sieht man einen älteren Herrn mit Hut und Brille, wie er ihr das Haar abschneidet. Fachgerecht hat er ihr einen weißen Umhang um den Hals gebunden. Auch auf dem vierten Bild» arbeitet «er. Auf dem fünften ist sie kahlgeschoren. Auf dem sechsten Bild tritt sie ihren Gang durch die Stadt an. Man warf ihr intime Kontakte zu einem Polen vor, ihr Mann war Soldat.
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