Als ich endlich ansetzte, versagte der Kuli. Deshalb beginnen meine Aufzeichnungen vor Datum und Uhrzeit mit wilden Kringeln. Punkt zehn schrieb ich schließlich:»Gelobt sei Jesus Christus!«
Was dann geschah, ließ sich nur mit dem Wirken des Heiligen Geistes erklären. Er führte meine Hand sieben Seiten lang, ohne daß ich auch nur einmal stockte, ohne daß ich auch nur ein Wort verbessern mußte. Die Formulierungen begeisterten mich selbst. Ich schenkte der Welt etwas, was sie in dieser Form noch nicht kannte. Selbst wenn ich nie wieder eine Zeile zu Papier bringen sollte, diese hier würden bestehenbleiben!
Bei meiner Rückkehr ereignete sich etwas Merkwürdiges, das mich, jetzt schon mit Wundern vertraut, ängstigte. Auf dem Blechdach unseres Häuschens lag Schnee! Ich stieg vom Rad. Was ich sah, sah ich: Schnee! Ein Schneefeld von der Größe unseres Blechdaches. Nirgendwo sonst war es weiß, selbst als ich schon die Hälfte des Grundstücks überquert hatte, waren Anschauung und Urteilskraft nicht zu vereinen. Plötzlich stand meine Mutter vor mir.»Träumst du?«rief sie. Mein Blick aber blieb auf das Blechdach gerichtet.»Schnee«, sagte ich.»Stimmt«, sagte sie.»Das leuchtet wie Schnee.«
Nun kamen glückliche Tage. Morgens zwischen sieben und acht saß ich bereits an einem kleinen Tisch in vollkommener Stille, beobachtete die Sonne, wie sie vorsichtig mit ihren Spinnenarmen durch die Kiefern tastete, sich aufs Moos legte, das meine Mutter mit der Harke von Nadeln und Zapfen befreit hatte, und es zum Leuchten brachte. Die Kladde lag unter dem aufgeschlagenen Martin Eden, und sowenig das Buch sie verdeckte, gab auch ich mir keine Mühe mehr, meine Berufung zu verbergen. Es war gar nicht möglich. Denn ich wechselte so häufig zwischen Buch und Kladde hin und her, daß Lesen und Schreiben zu ein und derselben Tätigkeit wurden, der einzigen, zu der ich Lust hatte und zu der ich geboren schien. Plötzlich fand ich in mir hundert Gedanken, wo früher kein einziger gewesen war.
Ich erinnere mich allerdings kaum noch an Martin Eden und an nichts mehr, was ich damals schrieb. Heute scheint es mir, als hätte ich das alles nur betrieben, damit sich zwischen den Seiten die Welt verfing, um mir nun, in der Erinnerung an diese Tage, mit all ihren Geräuschen, Gerüchen und Farben in den Schoß zu fallen. Würde ich mich sonst an die Igelit-Tischdecke 98mit dem grünweißen Würfelmuster erinnern, die mir beim Schreiben an den nackten Knien klebte? Wie oft nahm ich mir vor, sie zu verschieben, was nur ein Handgriff gewesen wäre; ich habe es nie getan, als fürchtete ich, damit die Quelle meiner Inspiration zu verlieren.
Sah ich vom Liegestuhl aus durch die Kiefernkronen — die Sonnenbrille, die ich im Küchenbuffet gefunden hatte, färbte alles türkis —, glaubte ich vom Meeresgrund aus hinauf zum Wasserspiegel zu blicken. Glitt die Sonne hinter einen Stamm, dunkelte das Hellrot zu Purpur. Am schönsten war das Abendlicht, das beinah waagerecht über den See kam und die Stämme rostrot glühen ließ. Schließlich, wenn das Licht aus den Baumkronen verschwand, tauchte es die Bäuche der Wolken in ein Violett, von dem sich abzuwenden Frevel gewesen wäre. Morgens, wenn ich Brötchen holte, hingen zwischen den Gräsern Spinnennetze im gleichen Weißgrau wie der Morgenmond, zurückgebliebene Schemen, Nachtschatten.
Jedes Geräusch diente nur dazu, mich der Stille zu versichern (einer Stille, von der später, viel später noch zu reden sein wird).
Meine Mutter, glücklich, daß ihr Sohn endlich zu Verstand gekommen war, dankte es mir, indem sie mich umhegte und bewachte, während ich mit den 26 Zeichen spielte.
Zu den Mahlzeiten setzte ich mich als Schriftsteller, erschöpft von der Arbeit. Und auch davon wollte ich schreiben, wie es ist, wenn man nach der Arbeit ruht. Jeder Gedanke, jede Regung, jede Beobachtung war kostbar und vergänglich. Ich war wie ein Sammler, ein Entdecker, unterwegs, um all das Merk- und Denkwürdige aufzulesen, zu beschreiben und der Menschheit mitzuteilen. Wie hatte ich bisher nur gelebt? Wie hatte ich dieses Leben ertragen? Wie ertrug meine Mutter ihr Dasein?
In den letzten Tagen besuchte uns Vera. Sie stellte keine Fragen. Sie sah nur auf das Buch in meinen Händen und verkündete:»Oh, Enrico liest ein Buch mit dem interessanten Titel ›Vater Goriot‹«oder:»Ah, mein Bruder Enrico macht sich mit dem Werk des großen humanistischen Schriftstellers Charles Dickens vertraut!«Mehr hatte ich von ihr nicht zu befürchten. Zudem profitierte ich davon, daß derjenige, der las oder schlief, bei meiner Mutter als unantastbar galt, eine Regel, die mich bisher benachteiligt hatte.
Die Ankunft in Dresden erlebte ich, der fast die Hälfte der Kladde mit den Abenteuern seiner Seele gefüllt hatte, als Triumph. Vor drei Wochen war ich von hier als dummer Junge aufgebrochen, der nichts von sich und der Welt und seiner Bestimmung in ihr geahnt hatte. Als junger Schriftsteller, der bald sehr berühmt sein würde, kehrte ich zurück.
Sie, Nicoletta, werden das für Kinderei halten. Für mich aber war es der Beginn meines Irrweges. Ich werde ja wohl zu hören bekommen, was Sie davon halten.
In Gedanken ganz bei Ihnen, Ihr Enrico T.
Lieber Jo!
Ich hatte einen Unfall, schuld war ein Wahnsinniger, der uns quasi von der Straße geschoben hat. Ich habe eine leichte Gehirnerschütterung, und ein paar Halsmuskeln sind gezerrt, aber das ist auch schon alles. Wir 99hatten Glück, denn plötzlich standen wir — mit kaputter Frontscheibe — genau zwischen zwei Bäumen.
Ohne Auto fühle ich mich wie amputiert, dadurch gerät alles durcheinander, es bedrückt mich regelrecht. Früher genügte es mir oft schon, Jimmy 100zu sehen, und gleich ging es mir besser. Wahrscheinlich wird seine Reparatur so teuer, daß sie nicht lohnt. Es ist das Auto von Michaelas verstorbenem Vater, der es gehegt und gepflegt hat, und für ihre Mutter das Andenken an eine bessere Zeit schlechthin. Außerdem wird sie nun merken, daß wir keine Kaskoversicherung abgeschlossen haben.
Ab morgen bin ich wieder in der Redaktion und werde versuchen, Euch anzurufen. Ich bin froh, wieder unter Leute zu kommen. Wenn ich hier herumliege, lebe ich nicht.
Besuch hatte ich genug. Der alte Larschen kam den ganzen Weg hierher gelaufen und hatte Äpfel in seinem Rucksack, eigene Ernte, die er uns, jeweils einzeln in raschelndes Papier verpackt, wie eine Kostbarkeit auf den Tisch legte. Der Apfel, belehrte er Michaela und mich, gehöre zu den Rosengewächsen, worauf Michaela sagte, so schöne Rosen habe sie lange nicht mehr geschenkt bekommen. Die beiden schlossen gleich Freundschaft. Sie darf sogar das Manuskript seiner Memoiren lesen. Wir luden ihn ein, mit uns Abendbrot zu essen. Als wir uns an den Tisch setzten, unterbrach Larschen seinen Exkurs über den Wacholderstrauch, legte das Kinn auf die Brust und betete lautlos. Robert erlebte das wohl zum ersten Mal. Wir sahen einander an, wagten aber nicht zu lächeln. Larschen hob den Kopf und sagte im selben Augenblick:»Der Wacholder kann bis zu fünfhundert Jahre alt werden, die Sommerlinde bis zu tausend. «Und auch wir bewegten uns wieder, als wäre der Film nur kurz angehalten worden. Als Larschen gegangen war, roch die Wohnung ein bißchen nach ihm. Die Äpfel aber dufteten.
Jörg glaubte, mich beruhigen zu müssen, weil wir nur noch siebzehntausend Exemplare oder weniger verkaufen. Die Wahlen werden uns helfen, und Jörg verfolgt ein paar Fälle aus seiner» Kommission gegen Korruption und Amtsmißbrauch«. Er ist dort der einzige Unbelastete und hat somit leichtes Spiel.
Heute stand Wolfgang, der Hüne, samt seiner ebenso hünenhaften Frau vor der Tür. Er wußte nichts von meinem Unfall, sie waren gekommen, um uns einzuladen. In Offenburg, bei unserem gemeinsamen Topfkauf, hatte er uns ein Essen versprochen. (Bisher haben wir uns nicht gewagt, die Töpfe zu benutzen.) Er arbeitet jetzt für Jan Steen, fährt einen eigenen Dienstwagen und verdient offensichtlich so viel D-Mark, daß es ihm peinlich ist, darüber zu sprechen. Jan Steen, sagte Wolfgang, lese jede Zeile unserer Zeitung. Den interessiere alles. Gefragt, wie sie ihm selbst gefalle, lachte er unsicher. Ein bißchen mehr Pfeffer täte der Zeitung sicher gut. Ich habe etwas ungehalten reagiert, schließlich gibt es ja nicht jede Woche einen Skandal wie den um die Ratsbibliothek 101(und selbst da soll ja alles rechtens gewesen sein) oder irgendeinen Fall aus den Schulen 102. Meine Frage nach seinem alten Betrieb empfand er wie eine Retourkutsche, obwohl ich das eher aus Verlegenheit angesprochen hatte. Aus den Andeutungen seiner Frau schloß ich, daß ihn diese Entscheidung quält. Aber auf Jan Steen läßt er 103
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