Und ich — jetzt werfe ich es mir vor, als hätte ich Sie durch meine Dummheit vertrieben — spielte den Ahnungslosen, zuckte mit den Schultern, als könnte ich mir nicht vorstellen, wer das sei, und fragte Georg, was denn anliege, wobei ich hoffte, daß Sie meine Stimme hören würden. Natürlich hatte ich nichts dagegen, daß sich Georg wieder nach oben verzog. Ach, Nicoletta! Diese Augenblicke der Verheißung!
Drei Gießener Zeitungsleute schlürften Kaffee und freuten sich über ihren neuen Spielkameraden. Einen von ihnen erkannte ich, an seinem lilafarbenen Jackett.
Ich redete mechanisch mit ihnen. Meine Gedanken hasteten hin und her, doch irgendwann beruhigte mich die Einsicht, daß mir noch etliche Stunden blieben, ja der Tag gerade erst begonnen hatte, also alles vor mir lag, viele Stunden mit vielen Minuten, und in jeder konnten Sie hier eintreten. Unerwartet schnell regte sich wieder das vertraute Glück, das diese Erwartung für mich bedeutet! Die verfrühte Wärme und das Frühlingslicht konnten nichts anderes sein als Ihre Vorboten.
Die Gießener hatten die Öffnung der Wahllokale beobachtet und sich in die Redaktion verzogen wie in eine Kneipe. Sie glaubten mir nicht, daß ich erst vor einer Stunde aufgestanden war und nicht seit den frühen Morgenstunden recherchiert hatte. Erst als ich sie bat, einen Stimmungsbericht für uns abzuzweigen, verlor sich ihr Argwohn. Ich legte meine Spiegel aus und begann. Ich wollte mir Ihre Ankunft, Nicoletta, verdienen und früh fertig sein!
Je häufiger die Tür aufging, um so größer schien mir die Wahrscheinlichkeit Ihres Erscheinens.
Die Gießener, die einzeln ausschwärmten, blieben nie lange weg. Ihre Lieblingsgeschichte war, daß Hans Schönemann, der ehemalige» Kreissekretär für Ideologie und Propaganda«, für die DSU kandidiere. Obwohl ich ihnen gleich gesagt hatte, daß hinter demselben Namen zwei verschiedene Personen stünden, erzählte der Igelkopf die Geschichte immer wieder und überließ es mir, ihn zu korrigieren. Dazu lächelte er dann, als wollte er sagen: Sind Sie sich da sicher?
Gegen zwei stopfte ich Kuchen in mich hinein und fürchtete, Sie könnten mich mit vollem Mund überraschen. Ich erwartete Sie dann für fünf, allerspätestens halb sechs, jedenfalls noch vor dem Ende der Wahl. Davon war ich so fest überzeugt, als hätten Sie sich gerade telephonisch angekündigt.
Gegen vier hatte ich alles geschafft und wäre noch früher fertig gewesen, hätte ich nicht mitunter Gastgeber gespielt und das Einrechnen des letzten Artikels hinausgezögert. Ich wünschte mir, Sie würden mich bei der Arbeit finden.
Franka hatte im Garten auf halber Höhe ein paar Klappstühle aufgestellt, von denen die weiße Farbe abblätterte und am Hosenboden hängenblieb. Wir hatten die Zeitung in Sicherheit gebracht und den Tisch zusammengeschoben. Selbst während der ersten Auslieferung waren nicht so viele Leute in unserer Stube gewesen. Manche von ihnen hatte ich im Oktober oder November das letzte Mal gesehen. Georg rechnete uns vor, daß alle, die nach 1912 geboren sind, nie an echten Wahlen teilgenommen hatten.
Als die Uhr wieder schlug, traf mich der sechste Schlag unerwartet. Ich dachte, ich hätte falsch gezählt, doch auch das Kofferradio meldete 18 Uhr. Eingepfercht, wie ich war, schien es mir, als hielten auch die anderen die Luft an, vollkommene Stille. Bis Jörg auflachte. Die anderen fielen ein. Plötzlich schrie jeder irgendwas, man lästerte und höhnte über die Leute, die die Prognosen gemacht hatten. 108Ich kämpfte mich hinaus und stieg im Garten den Hang hinauf.
Eine Stunde später waren nur noch die Gießener da und ein paar Austräger. Sie saßen um den Tisch, auf dem das Radio stand, und schwiegen. Es gab immer einen, der den Kopf schüttelte. Die Gießener fällten das härteste Urteil, sprachen von Verrat, Verrat an den Ideen des Herbstes, und verzichteten nun sogar auf die Geschichte um Hans Schönemann.
Sie waren die einzigen, die ordentlich zugriffen, als Franka einen Teller mit Broten hereinstellte. Georg hatte sich irgendwohin verkrochen, Jörg starrte zwischen seinen Ellbogen auf den Tisch, scheuchte Georgs Jungen wieder hinaus und schaltete schließlich das Radio aus. Im selben Moment klingelte das Telephon. Vielleicht hat auch das Telephon zuerst geklingelt. Jörg, der am nächsten saß, griff endlich nach dem Hörer. Er sagte» hallo«, wiederholte es lauter und brüllte schließlich, daß man nichts verstehen könne. Der Lilafarbene stieß mich an.»Der Hörer«, flüsterte er. Ich begriff nicht.»Na, der Hörer«, zischte er. Jörg schrie in die Ohrmuschel, er hielt den Hörer verkehrt herum. Ich machte ihm Zeichen, was ihn noch ungehaltener werden ließ. Ich entwand ihm den Hörer, aber da war schon niemand mehr dran.
Ich verabschiedete mich, Jörg holte mich an der Haustür ein. Ich sollte den Kommentar für die erste Seite schreiben, rechts, der Kasten, tausend Anschläge, das hat sonst immer er gemacht. Zu Hause überließ ich mich der Vorstellung, Sie würden jetzt im Fernsehen dieselben Bilder sehen.
Meine tausend Zeichen fielen mir leichter als erwartet. Georg wird sie wohl akzeptieren, bei Jörg bin ich mir nicht sicher. Viel Zeit zum Ändern bleibt nicht. Nach all den Hoffnungen, die ich auf diesen Tag verwendet habe, erscheint mir mein Fatalismus beinahe heroisch.
In Gedanken bei Ihnen
Ihr Enrico
Lieber Jo!
Ich hoffe, Ihr habt den Sonntag besser verkraftet als Michaela (was ich von den Wahlen halte, wird auf der ersten Seite stehen). Jenes» Zweikommaneun «kannst Du von Michaela in allen Tonlagen und Schattierungen hören, heute höhnisch, gestern eher verzweifelt, tonlos, dramatisch. Neben ihr kam ich mir vor wie ein Stein. Seit ihr» klartext «zu Grabe getragen wurde, ist Michaela nicht mehr beim Neuen Forum gewesen. Sie blieb auch gegenüber allen Angeboten für die Wahl standhaft, obwohl ihr die Offerten schmeichelten. Michaela Fürst in die Volkskammer!
Als hätte sie alles kommen sehen, hat sie sich am Freitag die Haare kurz schneiden lassen. Nicht mal Robert wußte davon. Die Idee sei ihr beim Friseur gekommen. Nun trägt sie so traurig wie unnahbar ihren Nofretete-Kopf. Wenn ich sonntags gegen halb neun aufbreche, vergißt sie nie, mich zu fragen, ob ich mir mein neues Leben so vorgestellt habe. Hoffentlich sieht sie niemals die Menschenschlange am Bahnhof, die auf die» Bild«-Zeitung wartet.
Am Sonntag erschien Michaela in einem Kleid, das sie von Thea bekommen hat, eher etwas für die Oper. Die Austräger und Forumsleute, die sich bei uns drängten, empfingen sie, als hielte endlich die rechtmäßige Herrscherin Einzug.
Nach der ersten Prognose bewahrte sie Haltung. Solange es Leute gab, die um sie herum verzweifelten oder wie Marion in Tränen ausbrachen, konnte Michaela sogar trösten. Sie wiederholte mehrmals, daß noch nicht aller Tage Abend sei. Die einen schimpften auf Bohley und Konsorten, weil die immer nur ihr Berliner Ding gemacht hätten, die anderen verdammten die Westgrünen, weil die weder Ahnung noch Geld hätten. Marion sagte dann, wir seien einfach nicht hart genug gegen die Bonzen gewesen. Wir hätten uns durch falsch verstandene Fairneß selbst um alles gebracht, warum hätten wir denn nicht alle Stasilisten veröffentlicht und die alten Parteien verboten? Wozu hätten wir denn Lenin in der Schule gelesen?
Nach einer halben Stunde hatte sich die Empörung erschöpft. Mit jedem, der sich davonstahl, verlor Michaela an Kraft. Man verabschiedete sich nicht mal mehr voneinander. Die einfachsten Sachen mißlangen: Kippen ließen sich nicht ausdrücken, zwei Gläser wurden kurz nacheinander umgestoßen, man rempelte sich an oder trat einander auf die Füße. Michaela gestand mir heute, für Minuten habe sie nicht mal mehr gewußt, daß Marion Marion heiße. Die Gießener, die hemmungslos mitschrieben, reagierten schließlich beleidigt auf das Wahlergebnis und sprachen von dem häßlichen Gesicht des Ostens.
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