Ich schildere Ihnen das nicht um seiner selbst willen, da gäbe es anderes zu erzählen, sondern weil dieses Erlebnis zum Stoff meiner ersten Erzählung werden sollte.
Die breite Feder des Füllers, der sich wunderbarerweise zwischen den Süßigkeiten in Tante Camillas Paket gefunden hatte, verlieh meiner Handschrift etwas Regelmäßigkeit, das Schreiben, ich meine die Bewegung der Hand, der Anblick der Schwünge befriedigte mich in ungekannter Weise.
Der neue Füller beschleunigte meine Gedanken, nach drei Seiten war ich bereits bei unserem gemeinsamen Gebet angelangt. Und plötzlich — eben war ich mir noch sicher gewesen, der Schwung meines Schreibens würde mich unbemerkt über diese Klippe hinwegtragen — lähmte mich die Erinnerung an meine Abschweifung, an diese Sünde, da ich, statt um Hendriks Bekehrung zu beten, an seine Schuhe und die Hänseleien gedacht hatte. Wenn ich es nicht einmal vermochte, einem um sein Heil ringenden Menschen beizustehen … Ich schraubte den Füller zu. Dabei hielt ich die Kappe in der Linken, drehte den Füller dreimal und legte ihn, mein Werkzeug, parallel zur oberen Kante meines Tagebuchs ab. Es war, als hätte ich seit Jahren jeden Arbeitstag mit dieser Geste beendet.
Plötzlich verstand ich: Sosehr ich als Person, als Gottes Geschöpf versagt hatte, so sehr eignete ich mich zur literarischen Gestalt. Und das war die eigentliche Erkenntnis: Nicht Tagebuch sollte ich schreiben, sondern ein Werk, eines, das wie kein anderes Gottes Wirken verherrlichen sollte.
Ich schlich mich ins Wohnzimmer, in dem der Duft des Westkaffees und der Fa-Seife mit den einheimischen Gerüchen rang, und entnahm einer Schublade den Briefpapierblock meiner Mutter. Ich schlug ihn auf, legte das Linienpapier zurecht, nahm den Füller, steckte die Kappe hinten auf und schrieb, ohne zu zögern, oben in die Mitte: Geburt, darunter: eine Erzählung von — neue Zeile: Enrico Türmer. Und ging befriedigt, als hätte ich mein Opus soeben vollendet, ins Bett.
In der Morgendämmerung saß ich, einen Pullover über dem Schlafanzug, wieder am Schreibtisch. Ich sehnte mich danach, in ausgreifenden Ober- und Unterschwüngen, die wie von selbst lange Sätze formten, mein Versagen zu schildern. Doch da es sich um eine Erzählung handelte, mußte erst einmal das Terrain und die dazugehörigen Personen beschrieben werden, so daß nach meinem ersten Satz, der» Es klingelte «lautete, die Handlung für längere Zeit abbrach.
Die Vorstellung, mein Werk an den beiden Weihnachtsfeiertagen, dann zumindest noch im selben Jahr, schließlich bis zum Ende der Weihnachtsferien zum Abschluß zu bringen, erwies sich als trügerisch.
Ich empfand durchaus das Zwiespältige der Situation, Hendrik vormittags zu begegnen und nachmittags über ihn zu schreiben. Wie erwartet, hatte er alle Hemmungen verloren und steuerte mich ohne Umwege an. Morgens saß er sogar auf meinem Stuhl, was soviel hieß wie: Ich habe auf dich gewartet. Es war kaum möglich, ohne ihn an meiner Seite mit jemand anderem zu reden. Stolperte er über ein Bein, fand er seine Schuhe nicht, oder sah er an der Tafel Zeichnungen — Ferkeleien, wie die Lehrer sagten — mit seinem Namen, straffte er nur seine Haltung und lächelte mit schiefgelegtem Kopf, was heißen sollte: Ich halte euch auch noch die andere Wange hin. Wenigstens hatte ich ihn überreden können, den obersten Knopf seines Hemdes zu öffnen. Ich ertrug auch Hendriks Geschwätz über positive und negative Energien im Weltraum, denn von wem, wenn nicht von Hendrik, konnte ich erfahren, wie es sich anfühlte, wenn der Heilige Geist von einem Besitz ergriff, je detaillierter, um so besser.
In den Winterferien, Hendrik und ich waren auf dem Weg in die» Junge Gemeinde«, unterbrach ich ihn mitten in seiner Theorie der Weltentstehung. Hendrik verstand nicht, was ich meinte. Ich wurde ungehalten. Mußte ich denn ausdrücklich fragen, ob er eine Stimme gehört und was diese gesagt hatte?
Der christliche Glaube, so Hendrik endlich, bringe Ordnung ins Leben. Und außerdem — dabei erschien sein» Die-andere-Wange-hinhalten-Lächeln«— könne es keinesfalls verkehrt sein zu glauben. Wenn es nicht stimmte, so Hendrik, würde man das sowieso nicht mehr merken.
Ich prallte zurück! Ich wollte diese Fratze ohrfeigen, ihn einen gottverdammten Betrüger nennen, ihn allen Qualen überantworten, deren die Hölle einer Schulklasse fähig ist!» Der Teufel ist ein Logiker«— das fand ich später irgendwo bei Heine.
«Hendrik hat mir den Füller aus der Hand geschlagen«, blieb über Monate hinweg die letzte Eintragung in meinem Tagebuch.
Diesem Leiden gab ich mich noch im August in Waldau hin, wo ich nichts anderes tat, als jene acht Bücher mit grau marmorierten Einbänden zu lesen, auf deren Rücken, Gold auf Blau, das Mantra Herrmann Hesse gedruckt war, ebenfalls ein Geschenk von Tante Camilla, das mich ohne Vorankündigung erreicht hatte. Zwischen den Seiten verbarg sich ein Duft, der besser und feiner war als jener des Intershops. Dieser Duft gehörte zu den Lesestunden, er war mein Weihrauch, der sich nur langsam mit der Waldluft und dem Geruch des Waldauer Häuschens mischte. Doch das bemerkte ich erst zu Hause.
Ganz der Ihre, Enrico
Lieber Jo!
Gestern habe ich den Stadtspaziergang mit dem Baron nachgeholt, das Wetter war danach. An den Roten Spitzen vorbei gingen wir zum Großen Teich und dort ein Stück entlang der Hutfabrik. Ich empfahl ihm einen Spaziergang mit Georg, der könnte ihm alles über Barbarossa und den Prinzenraub erzählen, über Melanchthon, Bach, Lindenau, Pierer, Brockhaus, Nietzsches Vater und anderes mehr. Der Inselzoo war geschlossen. Ich wollte einen Abstecher zu Altenbourgs 112Haus machen, aber da ihm der Name nichts sagte, gingen wir zurück zum Kino und dann die Teichstraße hinauf, diese Ruinenstraße, in der kaum noch ein Haus bewohnt ist. Wir kamen nur langsam voran, weil Barrista ständig photographierte. Seine Schritte und Gesten waren behutsam wie die eines Archäologen oder Höhlenforschers. Viele Höfe konnten wir gar nicht mehr betreten, das Mauerwerk sank in sich zusammen, bildete organische Formen, bauchige Mauern, durchhängende Fensterreihen. Die jungen Birken auf den Dächern wirkten wie Federschmuck am Hut. Ich erzählte ihm, was alle erzählen: Selbst nach dem Krieg habe man es kaum schaffen können, in jeder Kneipe der Teichstraße ein Bier zu trinken, über zwanzig sollen es gewesen sein, jetzt gibt es noch eine.
Hin und wieder legte Barrista die Hand auf den Putz und strich darüber. Es war seine Anteilnahme, die mich beschämte und mir die Augen öffnete. Auf diesem Spaziergang habe ich die ganze Roheit begriffen, die Roheit in mir und in uns, die Roheit, die es bedeutet, so eine Stadt verkommen zu lassen, ohne darüber verrückt zu werden. Ihren Verfall habe ich immer als natürlich, als den Gang der Dinge angesehen.
Mir fiel das Froschexperiment ein, das der Baron bei jeder Gelegenheit erwähnt (wenn man die Temperatur des Wassers pro Stunde um ein Grad erhöht, behauptet er, wird der Frosch gekocht, obwohl er herausspringen könnte, wenn er wollte). Und vielleicht haben all jene, die einfach aus diesem Land herausgesprungen sind, richtig gehandelt. Das dachte ich, während ich zusah, wie der Baron die verblichenen Beschriftungen und Schilder über den zugemauerten oder hinter blinden Scheiben dämmernden Läden photographierte.
(Georg sitzt hinter mir am Tisch. Während ich Dir schrieb, hörte ich ihn stöhnen und seufzen. Ob ich ihm sagen könne, was er auf die Frage, warum wir die Zeitung gegründet hätten, antworten solle? Ich wiederholte ihm seine damaligen Worte, Öffentlichkeit schaffen, Demokratisierung begleiten, die Leute sollen ein Forum haben, die Bonzen … Das wisse er ja alles, unterbrach mich Georg, aber ob man das heute noch schreiben könne? — Wegen seiner Skrupel bekommt er keinen Artikel fertig, dafür mäkelt er an unseren ständig herum.)
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