Am liebsten hätte ich ihn gleich zu Roberts Geburtstag eingeladen, schon wegen des Wolfs, der nachmittags von Georgs Kindern ausgeführt wird. Aber es hat schon genug Streit gegeben, weil morgen die Großmütter anrücken, Robert aber nicht davon abzubringen ist, auf dem Markt Zeitungen zu verkaufen. Michaelas Mutter hat darauf bestanden, wenigstens das Lenkrad von Jimmy zu behalten. Das werde ich ihr also morgen überreichen, sozusagen die Urne des seligen Gefährts. Den LeBaron darf ich vorerst behalten.
Barrista solltest Du einmal kennenlernen, und sei es nur, um seinen Wein zu probieren und Dir einen literarischen Helden der Gegenwart anzusehen.
Sei umarmt, E.
PS: Georg brütet immer noch, atmet aber ruhig und regelmäßig.
Liebe Nicoletta!
Es gibt Stunden, in denen ich Ihr Schweigen als Aufforderung deute, an meinen Gefühlen nicht irre zu werden und Ihnen zu vertrauen. Wieder und wieder suche ich unsere gemeinsamen Stunden nach Hinweisen ab, was ich falsch gemacht haben könnte. Wüßte ich wenigstens das! Besteht die Aufgabe darin, meine Verfehlung herauszufinden? Oder hat man Sie nach Hongkong geschickt? Sollte denn Barrista wirklich der Grund sein für Ihr Schweigen?! Ein Wort von Ihnen, die Entscheidung fiele mir leicht. Oder ist schon die Suche nach Gründen eine Anmaßung?
Wäre es nicht so absurd, würde ich Sie fragen, ob Sie meine Briefe lesen. Zurückgekommen ist noch keiner! Das macht mir Mut fortzufahren.
Mein zweiter Arkadiensommer gipfelte in unserem jährlichen Budapestbesuch. Statt uns wie sonst die Nacht im Zug um die Ohren zu schlagen, flogen wir, das Nonplusultra an Luxus. Die Abwesenheit von Vera, die in einem Ferienlager an der Ostsee arbeitete, tat ein übriges.
Unsere Wirtin, Frau Nádori 115, die wir wie immer mit Bettwäsche bezahlten 116, bat uns zur Begrüßung in die Küche, kochte Kaffee und zog sich eine» Duett «aus Mutters Schachtel. Sie inhalierte tief und blies mir den Rauch ins Gesicht. (Sie war eine Freundin der Mutter von Tibor Déry gewesen und hatte Dérys Frau in der schweren Zeit nach 56 unterstützt. Der Name sagte mir damals nichts.)
Wie immer am ersten Tag gingen wir hinauf zur Burg. Diesmal jedoch war ich kein Kind mehr — ich trug Stift und Notizblock bei mir. 117
Und dann erblickte ich ihn, den Turm! Er beherrschte die Straße wie eine dieser alles sehenden, alles vermögenden Konstruktionen bei Jules Verne. Von diesem Turm aus konnte uns ein rätselhafter Blitz treffen oder eine lebenswichtige Nachricht. Kämen wir ihm zu nah, würde er verschwinden.
Wie sehr verfehlte doch Frau Nádoris Etikett» Devisenhotel «das Wunder dieses Goldglasturmes. Was wir anstarrten, gehörte nicht mehr zu dieser Welt, stand aber auf ihrem Boden. Ein Ufo, das unerhörterweise im Diesseits gelandet und zugleich zum krönenden Schlußstein unserer Welt geworden war.
Nie werde ich das Lächeln meiner Mutter vergessen, mit dem sie das» Hilton «betrat, ihren Wink, der mich folgen ließ. Unbehelligt von Polizei und Staatssicherheit gelangten wir hinein — und zwar so, wie wir waren.
Sie müssen wissen, daß ich bis dahin noch nie ein Hotel, auch kein viertklassiges, von innen gesehen hatte. In Straßenschuhen liefen wir über Teppiche — niemand störte sich daran. Ich hörte westliches Deutsch und Englisch und eine weitere Sprache, wahrscheinlich Italienisch. Dazu kam unergründbares Licht, weder hell noch dunkel, und Ruhe, obwohl die Leute hier lauter sprachen als auf der Straße. Vor allem ältere Ehepaare fläzten sich in Ledersessel, wie ich es nie zuvor in der Öffentlichkeit gesehen hatte. Einige hatten sogar Hocker herangezogen und legten die ausgestreckten Beine darauf. Niemand forderte die Westler auf, die Schuhe auszuziehen. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich einen der Uniformierten Koffer und Taschen auf ein vergoldetes Wägelchen hieven und zum Fahrstuhl schieben sah. Gehörten sie nicht zur Polizei? Waren sie etwa Diener, in Wirklichkeit existierende Diener, die den Westlern ihre Koffer trugen? Der Eingang in die Unterwelt hätte mich nicht in größeres Staunen versetzen können als dieses Schlupfloch ins Jenseits.
Meine Mutter, die sich wohl von der Realität dieser Spezies überzeugen wollte, fragte einen mageren, hoch aufgeschossenen Uniformierten, wo man hier Kaffee trinken könne. Mit der flachen Hand wies der viel zu kurz Geschorene — waren es vielleicht Soldaten? — nach links, umrundete uns mit schnellen Schritten und wiederholte seine Geste. Meine Mutter dankte laut und auf deutsch. Gerade Deutsch, hatte sie uns eingeschärft, solle man im Ausland nicht zu laut sprechen.
Diese hohen, ungemütlichen Hocker kannte ich aus einer Dresdner Milchbar. Ich war ebenso enttäuscht wie erleichtert, etwas zu sehen, wofür es Vergleiche gab.
Meine Mutter schloß ihre Handtasche und schob sie auf die Theke. In ihrer Rechten knisterte die» Duett«-Packung, zwischen Zeigefinger und Mittelfinger der Linken steckte die Zigarette, Ringfinger und kleiner Finger hielten einen braunen D-Mark-Schein an den Handballen gedrückt.
Damit die Streichholzschachtel uns nicht verriet, bat sie die Bardame um Feuer. Diesmal hatte meine Mutter zu leise gesprochen. Ich mußte ihr helfen, ich mußte sie beschützen. Mehrmals prüfte ich die Frage, bevor ich sie laut zu stellen wagte.»Do you have matches, please?«wiederholte ich und errötete. Ich zweifelte weniger an der Richtigkeit der Frage als daran, daß sie außerhalb der Schule verstanden würde.
Die Streichholzschachtel glänzte nicht nur weiß, sie war auch mit einer goldenen Schnörkelschrift verziert und lag auf einer weißen Porzellanuntertasse. Und dann der Schock:»You are welcome, Sir. «In Gegenwart meiner Mutter nannte mich die Bardame Sir! Diese Phrase ging mir augenblicklich in Fleisch und Blut über, mit ihr wußte ich später im Englischunterricht zu verblüffen.
Ich entnahm der Schachtel ein Streichholz, ließ es auflodern und führte es vorsichtig — ich tat es zum ersten Mal — in die Nähe der Zigarette.
Meine Mutter war gealtert. Der Kummer der letzten Jahre, meine Inhaftierung und schließlich die Ausbürgerung hatten sich in ihre Züge gegraben. Daran änderte auch die Freude über meinen weltweiten Erfolg nichts. Ihr war der einzige Sohn genommen worden. Wie lange hatten wir uns nicht gesehen? Nach fünf Jahren war mir endlich von den Ungarn die Einreise genehmigt worden. Bis zuletzt hatten wir geglaubt, daß einer von uns an der Grenze zurückgeschickt werden würde, so wie wir schon oft im letzten Augenblick abgewiesen worden waren. Dann aber hatte sich das Unvorstellbare ereignet, und Mutter und Sohn konnten einander in die Arme schließen. War es nicht verständlich, daß die Worte, wenn überhaupt, nur langsam kamen, daß wir still nebeneinander die Gegenwart des anderen genossen?
Ich weiß nicht, woran meine Mutter dachte, während wir auf Kaffee und Orangensaft warteten. Sonst war mir ihre gelegentliche Raucherei immer peinlich gewesen, weil sie lieber die Augen zusammenkniff und hustete, als von ihrer Nachahmung abzulassen, für die ich das Vorbild nicht kannte. Hierher aber paßte sie gut.
Von meiner neuen Rolle war ich derart gebannt, daß ich die Westler verachtete, alles Kinder, egal ob jung oder alt. Diese Ahnungslosen! Was wußten sie schon von den Härten der geteilten Welt, sie, die nach allem grapschen konnten, in ihrer und erst recht in unserer Welt.
Durch die Fensterfront hinter der Theke erblickte ich die Säulen, Bögen und Mauerreste einstigen Glanzes. Über ihnen erhob sich jetzt der Turm. Hier oben lag einem die Stadt zu Füßen wie ein Geschenk, hier war der Ort meines Triumphes. Selbst die Westler verstummten, wenn sie mich erkannten.
Während ich träumte, hatte meine Mutter ein Obsttörtchen geordert. Nein, das war für sie! Sie sollte das Obsttörtchen genießen, ich konnte das täglich haben. Aber natürlich mußte ihr, die ich im teuersten Zimmer einquartiert hatte, alles übermäßig neu und unfaßbar vorkommen. Sie durfte die ganze Herrlichkeit nicht zu sehr an sich heranlassen, wollte sie weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen. Also aß ich das Törtchen.
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