Um zu demonstrieren, wie heimisch ich mich fühlte, ging ich auf die Toilette und setzte mich auf die blanke Klobrille, was ich sonst ausschließlich zu Hause tat. Nie wieder habe ich — oh, Nicoletta, bitte verzeihen Sie mir diese Intimitäten —, nie wieder habe ich so glücklich gekackt. In jenem Moment beschloß ich, Ungarisch zu lernen.
Ich wusch mir ausgiebig die Hände mit warmem Wasser und flüssiger Seife, betrachtete mich in dem riesigen Spiegel — und gefiel mir.
Meine Mutter erwartete mich. Sie faßte meine Hände und roch daran.»Wie die duften«, flüsterte sie. Mit diesen Worten traten wir hinaus auf die Straße.
Mindestens zwei Rollen standen für mich in den nächsten Tagen zur Auswahl. Ich pendelte hin und her zwischen der des ausgebürgerten Schriftstellers und jener des beobachtenden frühreifen Dichters. Sie unterschieden sich nur um einige Jahre.
Am darauffolgenden Tag pilgerten wir durch die Váci utca. Hatte ich mich bei unseren früheren Besuchen nach Devotionalien wie T-Shirts mit Aufdrucken, Formel-1-Bildern oder Schallplatten umgesehen, so zog es mich diesmal vor die Buchauslagen. Die Umschläge gaben wie zum Spott die Namen der Schriftsteller preis — Böll, Salinger, Camus —, doch alles Weitere verbarg sich hinter einer unaussprechlichen Buchstabenballung.
Als ich jetzt wieder vor einem Buchladen stehenblieb, merkte ich zunächst gar nicht, daß ich las und verstand. Im Geschäft bezweifelte ich tatsächlich das, was ich sah. Selbst als der Verkäufer, vor der zahlreichen Kundschaft geschützt durch die Ladentheke, das Buch aus dem Regal nahm und mir überreichte, begriff ich nur langsam. Es war auf deutsch, es war in Frankfurt am Main gedruckt, es trug das Siegel der drei Strichfischlein, und selbst beim wiederholten Lesen änderten sich weder Titel noch Vor- und Nachname des Autors. Ich hielt, obwohl das unmöglich war, Sigmund Freuds» Traumdeutung «fest in meinen Händen.
Endlos dehnten sich die Augenblicke, bis sich Gelegenheit fand, nach dem Preis zu fragen. Allmählich sickerte die Gewißheit in mich ein, daß ich dieses Buch nie wieder würde hergeben müssen.
Wenn ich gerade dieses Werk von Freud begehrte, sagte meine Mutter, wollte sie es gern kaufen. Mehr aus Pflichtschuldigkeit denn aus Neugier ließ ich mir einen Freud nach dem anderen geben. Der Verkäufer, der offensichtlich jedes Buch zurück ins Regal zu stellen hatte, bevor er ein neues herausrücken durfte, kapitulierte nach einem Blick über den Brillenrand und türmte die gesammelten Werke vor mir auf. Die Situation war hoffnungslos. Selbst wenn wir die Bar im» Hilton «gemieden hätten und sofort abgereist wären, unser Geld hätte auch dann nicht für alle Bände gereicht. Können Sie mich verstehen? Da eröffnet sich durch ein Wunder die Möglichkeit, etwas zu kaufen, was man nicht kaufen kann, und dann reicht das Geld nicht.
Ich entschied mich tatsächlich für die» Traumdeutung«, weil es das dickste Buch war und kaum teurer als die anderen. Ich überwachte seinen Weg zur Kasse und das Verpacken, zerriß aber, kaum auf der Straße, das ziegelförmige Paket, um die» Traumdeutung «als meinen unwiderruflichen Besitz zu begrüßen.
Mir war es egal, wohin meine Mutter ging. Alles, was ich wollte, war lesen.
Ich begann die Lektüre auf einer Bank am Donauufer. Ich las und las und liebte Mutter dafür, daß sie nichts weiter tat, als zu rauchen und sich zu sonnen.»Freu dich nicht zu früh«, mahnte sie abends.»Wir haben es noch nicht über der Grenze. «Niemals, unter keinen Umständen dürfe ich sagen, daß der Freud mir gehöre, denn das könne mich schlimmstenfalls die Schule, das Abitur, das Studium, also meine ganze Existenz kosten.
Sooft mir später Frau Nádori eine Woche Quartier gewährte, durchstöberte ich in den ersten beiden Tagen die Antiquariate und stattete dem Geschäft in der Váci utca einen Besuch ab. Es war quälend, maßzuhalten. Jedes Buch kürzte meine Tagesration. Ich mußte überlegen, welche und wie viele Lebensmittel ich mir leisten konnte — ein fremdes, bestürzendes Gefühl, das mir wie Hungern erschien. Doch alle ungekauft in der Buchhandlung zurückgelassenen Bücher schmerzten mich. War ich denn überhaupt berechtigt, irgend etwas zu schreiben, solange ich nicht alles von Freud, nein, überhaupt alles gelesen hätte?
Auf dem Rückflug erleuchtete das Abendrot den Himmel. Es war noch hell genug, um kurz vor der Landung unser Haus zu erspähen. Darin, daß ich es von so weit oben hatte ausfindig machen können, sah ich eine Auszeichnung des Ortes, zu dem wir zurückkehrten. Und für einen Augenblick dachte ich: So sieht Gott auf uns herab.
Genug für jetzt. Ich muß los. Und wieder mit der Erwartung, heute einen Brief zu erhalten.
Ihr Enrico
Lieber Jo!
Jetzt auch noch Böhme! Das wird ja immer absurder. De facto hat also die Staatssicherheit die Oppositionsgruppen gegründet. 118Hier ist der CDU-Kandidat zurückgetreten, als es hieß, die Volkskammerabgeordneten würden überprüft. 119
Die letzte Zeitung hat sich besser verkauft. Auf meinen Wahlkommentar gab es ein paar Reaktionen. 120In einem Leserbrief heißt es, das DDR-Volk habe sich vor der ganzen Welt blamiert. Am Schluß wünscht man uns höhnisch, in der von uns doch so bewunderten Marktwirtschaft nicht allzu schnell pleite zu gehen. Auch der Prophet erschien wieder. Plötzlich stand er in der Redaktion, sah von einem zum anderen, ohne unseren Gruß zu erwidern, reckte triumphierend sein Kinn vor, so daß sein Zuckerwattebart in den Raum ragte, und zerriß mit erhobenen Händen ein Papier, unser Abo-Formular, wie sich herausstellte. Die Schnipsel warf er in die Luft.»Das war’s«, sagte er und verließ uns schnellen Schrittes. Die Szene wirkt um so grotesker, da Fred uns versichert hat, der Name des Propheten tauche in den Abonnentenlisten gar nicht auf.
Wir haben jetzt vier Seiten mehr. Da ist es schon ein Erfolg, wenn wir bis ein Uhr morgens fertig werden.
Heute vormittag sah der Baron bei uns herein, um von seinen neuesten Entdeckungen zu berichten. Astrid, der Wolf, trottet immer gleich zum Wassernapf.
Wieder war von der Madonna die Rede. Angeblich weiß niemand, wie sie ins Pfarramt gekommen ist. Er hat schon einen Sachverständigen aus Hildesheim eingeladen, der Aufklärung schaffen soll.»Wollen wir sie den Schwarzen ausspannen?«fragte Barrista. Aus seiner Collegemappe zog er einen Bildband 121, eingeschlagen in den gleichen abwaschbaren Schutzumschlag wie Roberts Schulatlas. Er las uns daraus vor. Sinngemäß heißt es dort, daß Altenburg mit den sienesischen und florentinischen Tafelbildern eine Sammlung besitze, in der man die Geburt der nachantiken abendländischen Kunst nachvollziehen könne. Ob ich seine Pläne erriete.
«Stellen Sie sich vor, der Erbprinz kommt, und die Madonna zieht im Triumph ins Museum!«
Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum das so wichtig sein soll.
Beim Sprechen beäugte Barrista die Schüssel voller Pfannkuchen, die Ilona genau auf der Mitte des Tisches plaziert hatte. Ich bat ihn zuzugreifen. Das tat er, und nicht zu knapp, und vergaß darüber die Madonna. Seine Lippen spitzten sich, er leckte am Zucker und riß den Mund weit auf. Mit jedem neuen Pfannkuchen, den Barrista verschlang, wurden Ilonas Augen größer. Sie kaute noch am ersten. Nachdem Barrista die Schüssel geleert hatte, seufzte er, streichelte gedankenverloren seinen Kugelbauch, rutschte auf dem Stuhl etwas tiefer und schleckte Finger für Finger seiner Rechten ab. Die herabhängende Linke überließ er dem Wolf zur Säuberung. Ilona kaute und kaute.
In unsere Idylle platzte ein älterer Herr. Er fragte nach Georg, er sei verabredet und pünktlich. Georg und Jörg waren zum Korrekturlesen in Leipzig. Ich hoffte, diese Auskunft würde genügen.»Nei-ei-ein«, meckerte er los, diesmal bestehe er darauf, mit einem Verantwortlichen zu sprechen, auch wenn hier wohl nur Leute Gehör fänden, die mit so einem schwarzen Ding da vorfahren könnten. Er meinte den LeBaron. Aber schon das Gähnen des Wolfes und der Anblick von Astrids blindem Auge reichten, ihn zu verunsichern.
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