Sowenig ich in der Lage war, Geronimo zu antworten, so unmöglich war es mir geworden, Tagebuch zu führen oder zu beten — abgesehen von einigen inbrünstigen Vaterunsern. Was hätte ich schreiben sollen, worum bitten? Ich wußte doch, was richtig war, was falsch. Es gab die Lüge, und es gab die Wahrheit — Verräter oder Gottesmann. Ich mußte meine Selbstanklage nicht noch schriftlich führen. Ich wußte so gut wie jeder andere, daß es kein einziges Argument gab, das zu äußern nicht das Eingeständnis meiner Schuld gewesen wäre. Feigheit, Duckmäusertum, Zweifel, Schwäche — warum verhielt ich mich nicht wie Geronimo? Warum lebte ich wie alle anderen?
Dieser Zwiespalt verschärfte sich noch einmal Ende Oktober, in der Woche nach den Herbstferien, in denen mich eine Grippe vor schlimmeren Qualen bewahrt hatte.
Am Montag beorderte mich Myslewski zu einem weiteren Kellergespräch. Ich fühlte mich ausgezeichnet, so überraschend und als einziger zum zweiten Mal vorgeladen zu werden. Geronimo ließ alle wissen, daß er vor der Schule auf mich warten würde — um mir zu helfen, um mir beizustehen.
Myslewski war auf meine Weigerung, Offizier der Nationalen Volksarmee zu werden oder zumindest als Unteroffizier drei Jahre lang die Heimat mit der Waffe in der Hand gegen alle Feinde zu verteidigen, scheinbar unvorbereitet. Die Entrüstung, mit der er seit meinem ersten Nein kämpfte, ließ ihn stottern. Plötzlich schob er mir ein Buch zu, in dem ich alle notwendigen Informationen finden würde, um am Freitag in der Physikstunde einen zehnminütigen Vortrag über den Aggressor Bundeswehr zu halten. Er lächelte und tätschelte mich zweimal so väterlich am Oberarm, daß mich das Bedürfnis überfiel, ihm zu danken, ihn zu erfreuen, ihm zu sagen, daß ich es mir noch einmal mit den drei Jahren NVA überlegen würde. Ja, ich wäre nicht ungern in seiner Nähe geblieben. Die Schule verließ ich über den Nebenausgang und lief in einem weiten Bogen zur Haltestelle.
Ich ekelte mich vor mir selbst, denn ich mußte mir eingestehen, daß ich Myslweski am liebsten umarmt und zum Freund gewonnen hätte und vor Geronimo davongelaufen war. Und obwohl kaum eine größere Erniedrigung denkbar war, stand die eigentliche Demütigung erst noch bevor. Die Scheußlichkeit des gerade Erlebten und die Scheußlichkeit des Kommenden waren so überwältigend, daß ich schließlich Lust an meiner Misere empfand, eine Lust, die sich, als ich rannte, um die Straßenbahn zu erreichen, pubertär entlud. Ich schwöre Ihnen, daß es einer Willensleistung bedurfte, auf den Beinen zu bleiben und nicht wimmernd vor Wonne und Scham über meine feuchte Unterhose auf die Knie zu sinken.
Meine Novelle kreist allein um die Tage zwischen dem zweiten Gespräch im Keller und den Minuten des Vortrags. Die Situation hatte alles, was man für diese Gattung braucht, von der Exposition über ein bißchen Suspense bis hin zur überraschenden Wendung am Schluß.
Obwohl ich meine damaligen Gefühle längst literarisch aufgezehrt habe, bewahre ich noch immer eine Ahnung von jenen Stunden, in denen ich zwischen den Extremen hin- und hertaumelte wie zwischen zwei Wänden, aber an keiner Halt fand. Sollte ich selbst im Angesicht der Klasse, im Angesicht von Geronimo, die Argumente gegen ihn und gegen mich liefern?
Ich erspare Ihnen die weiteren Seelenqualen eines Schülers der neunten Klasse. Was mich heute daran rührt, ist die Angst und Ratlosigkeit meiner Mutter. Sie war es schließlich, die den Vortrag schrieb und es über sich brachte, mir zu verbieten, etwas von Wehrdienstverweigerung zu sagen. Dazu würde später noch Zeit sein. Das blieb natürlich ohne Einfluß auf mich. Im Gegenteil. Es hätte keines Geronimos bedurft, um mich an die Worte Jesu zu gemahnen, daß man Vater und Mutter verlassen müsse, um IHM zu folgen.
In der Novelle habe ich mich bei der Darstellung des Finales grob an den Stationen des Kreuzweges orientiert. Tatsächlich war ich am Ende meiner Kräfte, als zehn Minuten vor dem Schlußklingeln mein Name aufgerufen wurde. Ich erhob mich, schob den Stuhl zurück und trat aus der Bank, ohne zu wissen, was ich tun würde.
Mir zitterten die Knie, ein Phänomen, das ich erstaunt und interessiert registrierte. Mein Oberkörper blieb verschont, die Hände waren ruhig und feucht wie immer. Aus einer Art Taktgefühl gegenüber meinem Körper ging ich hinter den Lehrertisch, wo ich auf der Stelle kehrtmachte wie ein Soldat. Hier konnten meine Knie zittern, wie sie wollten. Ich hob die beiden A4-Blätter höher und war bereit, mit dem Ablesen zu beginnen. Alles Weitere würde sich finden.
Wort für Wort hielt ich mich an die mütterliche Vorgabe — meine Zunge mühte sich —, hervor aber quollen Laute, Laute jenseits des Menschlichen, ein Geleiere, das offenbar zum Lachen reizte. Stimmt es wirklich, daß alle lachten — ausgenommen ein paar Angsthasen —, Geronimo und Myslewski mich jedoch finster fixierten? Oder zitiere ich mich wieder selbst?
Ein zweiter Versuch scheiterte ebenso. Ich würgte an jeder Silbe, meine Zunge vollbrachte Kunststücke, die Stimmbänder indes blieben unbeherrschbar.
Der Stuhl am Lehrertisch war zurückgeschoben. Ich ließ mich darauf fallen, das aufgeschlagene Klassenbuch schob ich weg. Sitzend gelangen die ersten Worte, langsam bildete sich der erste Satz. Danach erstickte Myslewskis Wortschwall alles.
Die Klasse schwieg. Diese Erstarrung kannte ich gut.
Im nächsten Augenblick sah ich mich an den Lehrertisch gelehnt, auf eine Faust gestützt, den Daumen der anderen in die Gürtelschlaufe gehakt, den Vortrag zwischen Zeige- und Mittelfinger. Alles an diesem Jungen drückte Wohlgefühl aus, einen lethargischen Genuß, wie man ihn im Halbschlaf beim Anziehen oder Strecken der Beine verspürt.
Aber war der Junge dort am Lehrertisch überhaupt ich? Schwebte ich nicht über allem, für niemanden mehr erreichbar, doch alles im Blick, wie ich es nie zuvor im Blick gehabt hatte? Ich schaute herab, ich schaute auf das Geschehen unter mir, ein Diorama aus dem Schulleben, nichts Ungewöhnliches. Jener Enrico Türmer interessierte mich genausoviel oder genausowenig wie die anderen Schüler. Enrico Türmer unterschied sich nur darin von ihnen, daß ich ihm Anweisungen geben konnte. Ich sagte: Lächle, und er lächelte. Ich sagte: Wehr dich nicht, bleib stehen und bitte darum, den Kurzvortrag halten zu dürfen — und er bat darum, den Kurzvortrag halten zu dürfen. Ich sagte: Überhöre die Aufforderung, dich zu setzen, und er überhörte die Aufforderung, sich zu setzen. Ich schwieg. Ich wollte sehen, was er ohne mich tun würde. Enrico Türmer schwieg ebenfalls. Ein paar Atemzüge später wiederholte er:»Ich würde jetzt gern meinen Kurzvortrag halten, ich habe mir viel Arbeit damit gemacht. «Nachdem er auch die zweite Aufforderung, sich zu setzen, ignoriert hatte, wußte ich genug. Noch ein kurzes atemloses Zögern — dann willigte ich ein, und Enrico Türmer kehrte auf seinen Platz zurück.
Er hörte das Räuspern Geronimos, die auf dem Bodenbelag quietschenden Schuhe Myslewskis. Er sah sich um — niemand erwiderte seinen Blick. Mit dem Stundenklingeln erhob sich Enrico Türmer wie alle anderen von seinem Platz und verfolgte lächelnd den Abgang Myslewskis. Ihm schien, Geronimo, der als zweiter aus der Tür huschte, folgte jenem nach wie ein Gehilfe, als wollte er das Klassenbuch ins Lehrerzimmer tragen.
Sie müssen mir glauben, daß ich vollkommen glücklich gewesen bin in diesen Minuten. Der Umschwung war grandios. Ahnen Sie überhaupt, was passiert war? Können Sie sich vorstellen, was ich plötzlich begriffen, was ich schlagartig erfahren hatte?
Ich war unangreifbar, ich war zum Schriftsteller geworden!
Dabei erschien mir diese Erkenntnis nicht als Offenbarung, eher als etwas, was ich immer schon gewußt hatte, was mir nur in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen entfallen war.
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