Es war still wie bei einer Andacht. Jede emporgezogene Augenbraue, jedes kennerhafte Schmatzen, jedes Lob wäre läppisch, wäre ein Sakrileg gewesen. Auch Barrista ergab sich dem Mysterium und lauschte in sich hinein. Und ich verstand zum ersten Mal, warum man ein Glas zerschmettert. Verzeih dieses Pathos, doch bereits der zweite Schluck besaß ein Gran Gewöhnlichkeit.
Früher hätte ich mir gewünscht, den Genuß in allen Nuancen und Farben beschreiben zu können. Heute reicht es mir, ihn erfahren zu haben.
Die Kellnerin stellte eine silberne Schale zwischen uns, in deren Mitte ein glänzender Delphin aufsprang, um ihn herum ein Meer aus Eis, auf dem — wie ich glaubte — zwölf schwarze verschrumpelte Muscheln lagen, dazu Zitronenschnitze und Schälchen mit Sauce. Die Kellnerin streifte mit ihrer Hand meine Schulter, als wäre sie die Gastgeberin.
Der Baron hielt uns einen Vortrag, bei dem seine flache Hand den Zeigestock ersetzte. Anfangs wirkte die Ernsthaftigkeit, mit der er die verschiedenen Sorten Austern beim Namen nannte, ihre Herkunft und Eigenschaften beschrieb, irgendwie rührend, beinah lächerlich. Doch dieser Eindruck verflog schnell. Es gab verschiedene Sorten — pazifische Austern, atlantische Austern, antarktische Austern, Austern aus Nordfrankreich.
«Und jetzt machen Sie es so!«Barrista hantierte mit einem merkwürdigen Gäbelchen.»Lösen — Zitrone — Sauce, nicht zuviel — schlürfen!«Er schlürfte sie tatsächlich. Das Wasser drum herum soll angeblich noch Ozean sein.
Kaum hatte ich das glitschige Zeug im Mund, rief er.»Kauen! Sie müssen kauen, kauen, merken Sie’s?«Es schmeckte seltsam, wie etwas, das eigentlich keine Speise ist, aber Geschmack besitzt, ein wenig wie Nüsse. Ich kümmerte mich nicht um die anderen (Jörg gestand später, seine am liebsten ausgespuckt zu haben) und griff mir eine zweite. Mit den Austern verhielt es sich genau umgekehrt wie mit dem Champagner. Die zweite genoß ich tatsächlich!
Barrista erhob wieder sein Glas. Der Weißwein klärte und vervielfachte den Geschmack. Ich schlürfte eine dritte.
«Er hat wohl Feuer gefangen?!«Barrista stieß mit mir an und teilte die restlichen Austern zwischen sich und mir auf.
Früh um sechs war er heute nach Westberlin gefahren und hatte» in ausgewiesenen Geschäften «eingekauft. Er beschenke damit vor allem sich selbst. Viel zu lange habe er pausiert und sei nun glücklich, in diesem Kreise wieder genießen zu dürfen. Wir sollten nicht denken, erstklassige Qualität sei einfach zu bekommen, da würden meistens die Wege lang. Verlaß sei nur auf die eigene Nase. Deshalb reise er mit nichts weiter als einem Köfferchen, den weitaus größten Teil des Gepäckraums füllten Kühlkisten und seine transportable Höllenmaschine. Die Kellnerin trat zur Seite und wies mit beiden Händen auf einen zweiflammigen Kocher.
«Weiter!«rief Barrista.»Gedünstete Jakobsmuscheln!«Jedem wurde eine serviert, angerichtet mit Kräutern und einer dunklen Sauce, ein chinesisches Gericht.
«Sie werden sich wundern«, kündigte Barrista den nächsten Gang an. Wir sollten keine Angst haben, das sei kein Dessert, sondern ein Nichts, wie er es am liebsten nenne, ein Nichts, das unseren Geschmacksnerven Erholung verschaffen werde, eine Art Pfefferminzeis — es hieß anders und war auch kein richtiges Eis. Dazu reichte er Zigaretten in einer Schachtel herum, die an unsere» Orient «erinnerten.
«Der Erbprinz«, begann der Baron,»läßt Sie herzlich grüßen. Sie sollten vielleicht wissen, daß der Erbprinz nur eine schmale Rente bezieht, die wiederum fast vollständig einbehalten wird, um die Kosten für seine Unterbringung zu begleichen. Sobald Sie ihn kennengelernt haben, werden Sie ihn sich zum Freunde wünschen.«
Außerhalb seines Zimmers verfüge Seine Hoheit, wie die richtige Anrede laute, über keinen Besitz und stelle keinerlei Ansprüche, zu denen er, nebenbei bemerkt, auch gar nicht berechtigt sei. Doch sei es immer sein Traum gewesen, noch einmal an jenen Ort zurückkehren zu dürfen, von dem er vor mehr als siebzig Jahren habe scheiden müssen. Er, Barrista, sage das weniger, um eventuellen Argwohn zu zerstreuen, vielmehr fürchte er, an die Person des Erbprinzen könnten sich Erwartungen und Hoffnungen knüpfen, die er in gar keiner Weise zu erfüllen in der Lage sei, sosehr Seine Hoheit das selbst möchte.»Wir haben also«, resümierte Barrista,»nur Geld zu verlieren. «Bei diesem Satz schlug wieder sein englischer Akzent durch.»Sie haben natürlich nichts zu verlieren«, sagte er und hob sein Glas.»Fürs Geldverlieren bin ich zuständig. Ihr Part ist es, mir dabei zu helfen.«
Er machte eine Pause und lächelte über seine Sentenz.»Sie bekommen die Exklusivrechte. Das ist alles.«
«Und was bedeutet das?«fragte Georg, der plötzlich ganz ruhig und gelassen wirkte. Barrista, offenbar froh, daß einer von uns den Mund aufmachte, drehte sich etwas, um Georg besser sehen zu können, und erläuterte in seiner übertriebenen Art: Durch uns, das» Altenburger Wochenblatt«, würden Stadt und Land Altenburg überhaupt erst von dem Besuch erfahren, zu uns müßten die Politiker kommen, wenn sie etwas darüber wissen wollten, bei uns könnten sich die Leute über das Programm seines Besuches informieren und sogar an einem Schnellkurs in Sachen Benehmen bei Hofe teilnehmen, auch wenn der Erbprinz keinen gesteigerten Wert darauf lege. Doch zumindest bemühen sollten sich die Leute. In diesem Moment brachte die Kellnerin vier kugelrunde Salatköpfe, Eisbergsalat, wie Barrista erklärte. Dazu gab es auf einer Platte in Scheiben geschnittene Ingwerente und zwei Schälchen mit einer speziellen chinesischen Sauce. Der Baron schälte ein Blatt vom grünen Eisberg, bestrich es dick mit der braunen Sauce — die sei sowieso das Allerbeste — und wickelte mit bloßen Fingern zwei Scheiben Ente in das Salatblatt.
«Wenn Sie wüßten, wie lange ich darauf gewartet habe! Es gibt nichts Besseres«, sagte er und biß ab.»Absolut nicht«, flüsterte er kauend. Sauce tropfte auf seine Serviette.
Es zähle zu den schönsten Überraschungen seiner Expedition, im Osten noch ordentliche Fleischwaren vorzufinden, unter denen der» Mutzbraten«— er sprach die erste Silbe fälschlicherweise kurz — eine Delikatesse ersten Ranges sei. Und wer weiß, was man daraus noch alles machen könne, denn was einem in den Gourmettempeln von Monaco bis Las Vegas angeboten werde, sei meist einfacher Bauernfraß, nur raffiniert veredelt. Daraufhin kostete er den ersten Schluck aus einer neuen Flasche Weißwein — sog ihn zischelnd durch die Zähne, spitzte die Lippen, ließ sie wie einen kleinen Rüssel hin und her wandern, abschließend ein kurzes Schmatzen. Wir stießen an auf die Hausmannskost.
Das Schweigen, in dem wir die Gläser abstellten, nutzte ich, um ihn endlich nach seinem Beruf zu fragen. Ich hatte ja keine Ahnung, was ich da tat. Sein ganzer Körper wich vor mir zurück. Es war kein Scherz, als er sagte:»Aber meine Steuererklärung möchten Sie nicht sehen!?«Ich versicherte, daß ich ihm weiß Gott nicht zu nahe treten wolle —»Lassen Sie Gott aus dem Spiel!«fuhr er mich in noch schärferem Ton an.
«Ist das üblich?«wandte er sich an Georg, dann an Jörg und schließlich wieder an mich.»Fragt man sich bei Ihnen die Berufe ab?«
Ratlos bejahte ich.
Er habe sich nie herausgenommen, derartiges zu fragen, es sei denn in Vorstellungsgesprächen. Natürlich interessiere ihn das, wir sollten ihn nicht falsch verstehen, brennend interessiere ihn, wie jemand sein Geld verdiene, denn der» Job «sei ja leider oft die einzige nicht lächerliche Seite eines Menschen.»Dann darf ich wohl später die Frage an Sie zurückgeben?«
Man könne ihn» schlicht und ergreifend «als Unternehmensberater bezeichnen, was die einfachste Umschreibung für sein Tun und Lassen sei. Doch» interpretiere «er diesen Beruf etwas anders als gemeinhin üblich. Er investiere hier und da schon mal selbst, da es in seinen Augen» Sinn mache«, durch den Zuschuß eigenen Kapitals den Klienten nicht nur das nötige Vertrauen in seine Vorschläge zu geben — etwas anderes als Vorschläge könne er ja nie unterbreiten. Für ihn sei es unmoralisch, unabhängig von Erfolg oder Mißerfolg zu kassieren, wie es mit Vorliebe die Banken oder seine speziellen Freunde, die Rechtsanwälte, täten. Über den eigenen Berufsstand äußere er sich lieber nicht, denn da werde zu oft der Bock zum Gärtner gemacht. Für einige Augenblicke verfiel er in ein Sinnen, murmelte etwas und entschuldigte sich für seine Absenz. Alle Berufsstände, fuhr er fort, auch und vor allem Ärzte, würde er gern diesem Erfolgsgesetz unterwerfen. Er könne nur sagen: Das eigene Interesse sei noch immer der beste Ratgeber, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft, ja für die Menschheit. Davon sei er zutiefst überzeugt.
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