Barrista bat um Vergebung für sein Eindringen, wurde aber von Larschen, für den er zu leise gesprochen hatte, mit dem Ausruf unterbrochen, wie sehr er sich freue, gleich zwei Gäste in seinem bescheidenen Haus begrüßen zu dürfen. Ja, geehrt fühle er sich, und begann eine Rede, die er offenbar vorbereitet hatte. Dabei hielt er eine Mappe im Arm und strich unentwegt darüber, als müßte er sie säubern und ihre Ecken glattbügeln. Mit geradezu beängstigender Offenheit schilderte er dann, was er den dramatischen Höhepunkt seines» kleinen Werkes «nannte, nämlich die gescheiterte Flucht in den Westen. Sie sollte ihm nicht nur eine Landwirtschaft nach eigener Vorstellung verschaffen. Mit ihr war auch die Erfüllung seiner Liebe zu einer verheirateten Frau verbunden. Denn diese Frau war nicht bereit gewesen, sich scheiden zu lassen, wohl aber mit ihm zu fliehen. Sie wurden verraten, verhaftet, verhört. Im Gerichtssaal erkannte er seine Liebste nicht wieder. Ihr Haar war schlohweiß geworden. Er kenne die Leute, die sie verraten hatten, ein Wissen, das ihm keine Stunde der verlorenen Jahre zurückgebe. Er empfinde dieses Wissen als zusätzliche Strafe. Mehrmals gebrauchte Larschen den Ausdruck» meine Wenigkeit «und fragte zum Schluß, ob ich denn bereit sei, einen Blick auf» seine Memoiren «zu werfen. Ich erinnerte ihn daran, daß ich ja deshalb gekommen sei. Barristas Wolf, der anfangs mehrmals wegen Larschens Redeweise — kaum ein Satz, den er nicht mit Nachdruck spricht — aufgeschreckt war, bewegte im Traum seine Pfoten.
Als wir die Stiege hinunterkletterten, schlug die Standuhr elf Mal. Seit unserer Ankunft waren genau zwanzig Minuten vergangen.
Barrista hatte für Larschen erneut zu leise gesprochen und war deshalb ohne Antwort auf seine Frage geblieben, ob er, Barrista, das Manuskript ebenfalls lesen dürfe.»Wenn es nur halb so gut ist wie seine Erzählung«, sagte er,»müssen Sie es drucken!«Er meinte sogar, wir sollten ein Buch daraus machen. Barrista dankte mir überschwenglich. Ich könne mir gar nicht vorstellen, wieviel ihm diese Begegnung bedeute. Und ob ich den Stopfpilz gesehen habe? Der habe ihn regelrecht gerührt. Er selbst habe auch immer Stopfzeug dabei, nicht weil er sich keine neuen Socken leisten könne, sondern weil ihn Stopfen beruhige, ihn an die Abende seiner Kindheit erinnere und ihm die besten Ideen beschere. Er schilderte mir ausgiebig seine vergebliche Suche nach einem Stopfpilz. Weder in Kaufhäusern, Kurzwarenläden, ja nicht mal im Trödelladen habe man ihm helfen können, bis sich eine Verkäuferin seiner erbarmt und ihm einen Stopfpilz von zu Hause mitgebracht habe.
Als ich Barrista in Altenburg absetzen wollte, fragte er, ob etwas dagegen spreche, daß er mich weiterhin begleite. Für ihn sei alles interessant, was ich zu tun habe, sagte er, ausnahmslos alles! Und so tauchte ich nun überall mit meiner kleinen Gesellschaft auf, im Rat der Gemeinde von Rositz, im Rathaus von Meuselwitz, ich stellte Barrista den Sekretärinnen vor und machte ihn in Wintersdorf sogar mit dem Bürgermeister bekannt. Der Wolf blieb im Auto, und ich genoß die Freiheit — durch Barrista dazu ermuntert —, den Zündschlüssel steckenzulassen. Er hat recht. Man bewegt sich tatsächlich anders.
Auf der Rückfahrt drängte mich Barrista, hinter Rositz rechts abzubiegen, er wollte mir eine Entdeckung zeigen.
Was ich zu sehen bekam, war trostlos: ein von Unkraut überwucherter Fußballplatz, daneben eine Baracke mit dem Schild» Schiedsrichterklause«, vor Fenster und Türen weiße Gitter, weit und breit keine Menschenseele. Barrista schritt in seinen altmodisch spitzen Stiefeln voran, und obwohl ihm sein linkes Knie weiterhin zu schaffen machte, übersprang er behend die wenigen Stufen der kleinen Veranda, öffnete die Gittertür und trat ein. Ich traute meinen Augen nicht. Das Innere war als Waldschenke hergerichtet, weder die Holztäfelung noch die zahlreichen Gäste paßten zu dem armseligen Äußeren. Barrista zog den Mantel aus, klopfte leutselig auf jeden Tisch, grüßte zum Tresen und schob sich auf die Eckbank des Stammtischs. Kaum daß ich saß, stand ein Bier vor mir. Am merkwürdigsten aber war, daß der Wirt, ein Kahlkopf, den Wolf» Astrid «rief. Und Astrid trottete, ohne nach links oder rechts zu schauen, durch die aufgehaltene Küchentür. Barrista rieb sich die Hände.»Ist es hier nicht wundervoll?«
Wir aßen Mutzbraten 63. Der war so zart und gut gewürzt, daß ich mir am liebsten eine zweite Portion bestellt hätte.
Barrista war in seinem Element. Ich erzählte ihm, wie wir alle zusammen die Einnahmen der ersten Ausgabe gezählt und gerollt hatten und mit dem Ergebnis auch halbwegs zufrieden gewesen waren — bis Georg einfiel, daß die Scheine ja noch im Safe lagen. Von solchen Geschichten kann Barrista nicht genug bekommen.
Während der ganzen Zeit beobachtete ich den Wirt. Irgend etwas an ihm war eigenartig. Die Erkenntnis, daß seinen Lidern nur die Wimpern fehlten, beruhigte mich irgendwie.
Laß von Dir hören! E.
Liebe Frau Hansen!
Hier eine kleine Szene zum Thema Kunst, die Sie vielleicht interessieren wird: Heute vormittag, ich telephonierte gerade, erschien ein Mann mit glänzenden Augen in der Redaktion, nahm seine Schiffermütze ab, rückte sich einen Stuhl zurecht und zog ein abgegriffenes Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche. Ich witterte einen Annoncenkunden.
«Darf ich reden?«fragte der Mann, obwohl er sah, daß ich noch nicht aufgelegt hatte.
«Sagt Ihnen das was?«fragte er, streckte beide Arme senkrecht nach oben und zog den Kopf zwischen die Schultern.»Sagt Ihnen das nichts?«Er wiederholte die Geste.»Das sollten wir doch abschaffen — diese Proletkultmonumente!«Wir als» neues Organ «müßten das aufgreifen!» Kommunistenkunst fliegt auf den Schrott!«Er bot sich an, einen Leserbrief zu schreiben.
Sie hätten wahrscheinlich schneller begriffen, was er meinte, und ihn auch schneller vor die Tür gesetzt. Ihre Lieblingsfigur 64neben dem Museum will er absägen. Er stopfte sich dann wieder sein Portemonnaie in die Gesäßtasche und schied mit dem Versprechen, nun endlich mal die» Bild«-Zeitung nach Altenburg zu holen.
Das goldene Zeitalter der Kunst läßt auf sich warten. Und was die Schubladen betrifft, von denen im Moment so viel die Rede ist: Die kann man vergessen. Wen interessiert das noch? Unsere Erfahrungen sind heute so brauchbar wie ein hundert Jahre altes Medizinstudium.
Das ganze Mißtrauen, mit dem solche wie wir 65seit Jahrtausenden bedacht wurden, war doch ungleich gerechtfertigter als Bewunderung und Verehrung. 66Nein, ich zähle nicht mehr dazu, Gott sei Dank habe ich das hinter mir. Leicht war es nicht. Man denkt, man hat eine Begabung, und dann versaut man sich damit das Leben.
Es ist ungewohnt, ohne Zukunft zu leben, jetzt, da alles nur noch eins zu eins zu haben ist, ohne Aussicht auf Erlösung. Aber diesen Zustand ziehe ich dem der Vergangenheit bei weitem vor. Heute erscheint mir die schönste Erinnerung nachgerade obszön. 67
Ich würde Ihnen gern einmal von Johann erzählen, einem Freund von mir. Er ist zu klug, um nicht zu erkennen, daß kein Stein auf dem andern bleiben wird, aber zu selbstverliebt, um nicht trotzdem wie bisher weiterzumachen. Johann hat, nicht ganz freiwillig, Theologie in Naumburg studiert und müßte ab Sommer als Pfarrer aufs Dorf ins Erzgebirge. In Dresden jedoch ist er bekannt als Untergrunddichter und Musiker. Zudem hat er eine Frau, deren Familienname auch außerhalb vom Weißen Hirsch (dem Prominentenviertel hoch über der Stadt) und von Dresden etwas gilt. Jetzt versucht er sich in die Politik zu retten. Selbst wenn er gewählt werden sollte, wird er sehr schnell zu spüren bekommen, daß diese Ersatzdroge zu schwach ist. 68
Ich weiß gar nicht, ob Sie das überhaupt interessiert. Ich wollte Ihnen einfach einen Gruß schicken, der, selbst wenn er sich nicht so lesen sollte, sehr herzlich gemeint ist!
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