Ihr Enrico T.
Liebe Frau Hansen!
Wäre da nicht Ihre Handschrift, ich würde es nicht für möglich halten, daß dieser Brief von Ihnen stammt. Lassen Sie das nicht Ihr letztes Wort sein!
Nie werde ich vergessen, wie Sie die große Museumstreppe heruntergesprungen kamen und erst aufsahen, als ich grüßte. Und Ihre Verwirrung, weil Sie glaubten, wir kennten uns, und zögerten weiterzugehen. Sie gehörten nicht nach Altenburg, das sah jeder. Mehr als der Mut aber fehlte mir in diesem Moment eine Idee, was ich Sie fragen, wie ich Sie ansprechen sollte.
Während der Pressekonferenz im Museum nahm ich mir vor, Sie irgendwohin einzuladen, sollte mir das gütige Schicksal eine zweite Chance gewähren.
Daher erschien mir unser Wiedersehen als Fügung. Ich will mich nicht auf unglückliche Zufälle herausreden, doch Ihre Freundin/Kollegin saß genau in unserer Blicklinie. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich bemerkte die Reaktion und hatte auch gar nichts dagegen, weil ich fürchtete, mich sonst zu schnell zu verraten. Das können Sie mir vorwerfen. Aber nur das!
Wie Sie am Fensterbrett lehnten, den Photoapparat in Ihren Händen — ich war glücklich, mit Ihnen in einem Raum zu sein, und bemühte mich, Sie nicht zu oft anzustarren, also zwang ich mich, nur selten in Ihre Richtung zu blicken. Aber meine Blicke waren nicht mißzuverstehen. […]
Warum sind Sie mir in den Garten gefolgt? Wieso jetzt diese Vorwürfe? Wieso hat sich Frau *** nicht gleich bei Ihnen beschwert? Ich begreife das alles nicht! 69
Um ganz offen zu sein: Als Sie beide gegangen waren, sagte ich: Diese Frau ist gefährlich, und natürlich wußte jeder, an wen ich dabei dachte. Ich meinte das allgemein, unpersönlich — daran muß ich jetzt denken.
War das Interview nicht längst zu einem Verhör geworden? Ohne Ihren erlösenden Einwurf hätte es mit einer Verurteilung Georgs zum» Ewiggestrigen «geendet. Wir sind keine Kinder. Ich will gar nicht von dem fordernd unter die Nase geschobenen Mikrophon reden. Und ich nörgle auch nicht an dem scharfen Tonfall herum, in dem ihm eine schriftlich ausformulierte Frage nach der anderen vorgesetzt wurde. Wer kann schon, ohne daß Zeit zum Nachdenken bleibt, auf selbem Niveau antworten?
Was Georg» das eigentliche Leben «genannt hat, wurde bei ihr zu» existentiell«. Sie zitierte ihn mit» nebensächlich«, wo er den Mauerfall als» logische Konsequenz «bezeichnet hatte. Sie brachte ihn dazu, sich ständig zu rechtfertigen.
Ihr Ausruf:»Aber man muß doch das Mittelmeer sehen!«ist der schönste Satz, den ich je gehört habe. Er war eine Erlösung! Ja, ich will das Mittelmeer sehen!
Kein Wort von all dem, was Sie sagten, habe ich vergessen. Als Sie über das Glück sprachen, an einem Ort wie diesem leben zu dürfen, der solche Pracht beherberge, und daß jeder Weg nach Italien über Altenburg führen müsse — ja, ich weiß, Sie bezogen es auf das Museum … Für mich war es ein Gleichnis, ein Versprechen, und so nah neben Ihnen stehen zu dürfen schon eine Erfüllung.
Ich sehe diesen hellen blaßblauen Streifen am Horizont, in den die Kegel 70von Ronneburg ragten, die Sie Pyramiden nannten, und diese schwere schwarzgraue Wolkendecke über uns, unter der bereits die Straßenbeleuchtung angegangen war, so daß wir über die Stadt sahen, als schauten wir aus einem Zimmer heraus. Und wie wir dann unser Gespräch unterbrachen, weil dieser Wolkenstreifen orangefarben aufleuchtete. […] An mehr will ich Sie gar nicht erinnern.
Ihr Enrico Türmer
Lieber Jo!
Wie findest Du die Zeitung? Letzten Donnerstag sind Robert und ich wieder tausend Exemplare losgeworden. Michaela aber ist verzweifelt. Sie hatte bei der Intendantin die Wiederaufnahme der» Julie« 71durchgesetzt, nach fast anderthalb Jahren. Flieder 72war nur einmal kurz da. Er hat einen Tumor im Kopf und wird diese Woche in Berlin operiert. Damit kommt er auch ohne Zutun der Sluminski 73nicht als neuer Oberspielleiter in Frage. Die gestrige Aufführung, die zweite Premiere sozusagen, von der sich Michaela so viel versprochen hatte, war mit 32 verkauften Karten ein Desaster. Und das, obwohl wir die Wiederaufnahme dank Marion groß angekündigt hatten.
Als ich gegen elf hinüber zum Theater ging — ich hatte ja» Zeitung machen «müssen 74—, war schon alles dunkel und kein einziges Auto mehr auf dem Parkplatz. Die Pförtnerin verwehrte mir mal wieder den Eintritt. Erstens gehörte ich nicht mehr dazu, und zweitens gebe es keine Premierenfeier, weil es keine Premiere sei, und zum Feiern bestehe erst recht kein Grund!» Zweiunddreißig Zuschauer! Zweiunddreißig! Überlegen Sie mal!«
Als ich die Kantine betrat, rief Michaela gerade:»Oh, ich bin so müde! Ich kann nichts mehr tun! Ich kann nicht bereuen, nicht fliehen, nicht bleiben, nicht leben — nicht sterben! Helfen Sie mir! Befehlen Sie mir, und ich werde gehorchen wie ein Hund!«
Du siehst, ich kann es immer noch auswendig! 75
Zu viert saßen sie da: die Neue von der Requisite mit dem schönen Charlie von der Ankleide und am Erkertisch Michaela und Claudia, ihre Freundin und Kollegin. Claudia verkündete, bis zum Morgen durchzumachen. Ich fragte, wie sie das mit einer halben Flasche Wodka schaffen wollten.
«Weiter«, rief Michaela.
«Das war vorhin«, begann Claudia und klemmte sich die Kappe eines Filzstiftes zwischen Oberlippe und Nase.»Jetzt haben wir an was anderes zu denken!«Bei den letzten Worten warf sie sich über den Tisch und prustete los. Der schöne Charlie applaudierte und versuchte mitzulachen.
«Wenn du mich fragen würdest, wie es gewesen ist, nur mal angenommen, du würdest mich fragen«, erwiderte Michaela,»dann würde ich auf der Stelle antworten — na? Was würde ich sagen? — , würde ich sagen …«, und nach einem kurzen Auflachen:»Berauschend!«Mit großer Geste präsentierte sie mir die leere Kantine.
So ging es weiter. Du kannst es lächerlich nennen oder genial, was die beiden da aufführten, ich aber bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Claudia habe ich im Verdacht, daß sie den Fehlschlag genoß. Für sie war es damals eine Demütigung, nicht die Julie spielen zu dürfen.
«Sind Sie nicht mein Freund?«fragte Michaela und sah die von der Requisite an. Es entstand eine Pause, in der Michaela die Ärmste fixierte, bis diese errötete und piepste:»Ja, natürlich will ich Ihre Freundin sein. «Claudia konnte ihr Gekicher nicht unterdrücken.
«Fliehen? Ja — wir werden fliehen!«fuhr Michaela fort.»Aber ich bin so müde! Geben Sie mir ein Glas Wein!«Charlie erhob sich, um ihr den Rest Wein einzuschenken. Michaela schien irgendeiner Erkenntnis auf der Spur zu sein, als nehme sie etwas wahr, was ihr bisher entgangen war. Ihr Satz» Wo haben Sie gelernt, sich so auszudrücken?«ergriff sie wirklich. Nach einer Pause, in der sie sich kerzengerade aufsetzte, verkündete Michaela todtraurig:»Sie müssen viel im Theater gewesen sein.«
Niemand lachte. Es war gespenstisch.
«Ausgezeichnet! Sie hätten Schauspieler werden sollen.«
Die Stille war atemlos wie nach dem letzten Ton eines Requiems.
Michaela ließ sich widerspruchslos von mir hinausführen. Ich habe ihr geraten, sich krank schreiben zu lassen, aber sie will nicht, das sei nichts für sie.
Ich kann sie nicht trösten! Das Theater ist mir vollkommen fremd.
In der neuen Ausgabe haben wir ein Interview mit Rau 76. Jörg durfte es machen, nicht die LVZ. Rau hielt auf dem Markt eine Rede, lobte die» privatere Art «des Lebens im Osten und hat nun Sorge, daß durch die» Sucht nach der D-Mark die alle so werden, wie wir schon sind«. Auch er scheint die Seele im Osten zu suchen. Soll er nur. Dann hat er einfach geplaudert, als Skatspieler sozusagen, und erklärt, wie man richtig wählt, und sechs Busse aus Nordrhein-Westfalen — sogar die alte Werbung ist noch drauf — dem Altenburger Kraftverkehr geschenkt. Michaela war sauer, weil ausgerechnet Karmeka, ein Zahnarzt, der sich im letzten Herbst schön still verhalten hat, jetzt als Vertreter des Runden Tisches die Schlüssel von Rau entgegennehmen durfte. Morgen kommt Otto von Habsburg auf Einladung der DSU. Die hat schon mal Flugblätter verteilt:»Hätten wir sie aufgehängt, wären wir nicht besser als sie, die mit Stasi und Schießbefehl regiert haben.«
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