«Warum mißtrauen Sie mir?«fragte er. Seine Augen schwammen auf mich zu. Außer dem Klacken des Schalters tat sich nichts.»Kein Problem, kein Problem«, rief er und hob die Kerzen höher. Ich war beschämt und wütend, letzteres um so mehr, als ich schon Freds Ausreden hören konnte.
«Im Osten habe ich mir ganz fix angewöhnt, auf alles vorbereitet zu sein. «Wieder deutete er eine entschuldigende Verbeugung an, weil er mir nicht den Vortritt ließ.»Es ist eine Kunst, mit den Leuten umzugehen, wirklich eine Kunst. «Unbeirrt humpelte er vor mir her, die brennenden Kerzen hielt er, so weit es ging, vom Körper entfernt.»Auch das Arbeiten will gelernt sein, machen Sie da bloß keine Ausnahmen!«Er kam mir zuvor und öffnete mit dem Ellbogen die Haustür. Der Zugwind löschte die Kerzen. Clemens von Barrista jedoch schritt in dem trüben Laternenlicht weiter, als leuchtete noch immer er den Weg. Da begann die Glocke der Martin-Luther-Kirche zu schlagen. Im nächsten Augenblick wurden die Laternen abgeschaltet. Ein kurzes Flackern, und die Nacht hatte Barrista und seinen Wolf verschluckt. Eine Weile lauschte ich seinen Schritten und dem englischen Singsang, rief ihm zweimal» Auf Wiedersehen!«hinterher und erwartete, jeden Moment das Licht seines Autos zu sehen. Es blieb dunkel, und nach dem letzten Glockenschlag war es überall still.
Ich schlief wie ein Stein.
Enrico
PS: Als ich heute in die Redaktion kam, wußte Jörg bereits alles und fragte, wie ich denn Barrista fände.»Speziell«, sagte ich und wollte mich gleich verbessern. Ich mag dieses Wort nicht. Doch Jörg stimmte mir sofort zu.»Speziell «treffe es vielleicht am besten.»Wie auch immer«, sagte er, an Georg gewandt,»Barrista will uns! Uns und niemanden sonst!«
Jörg war gegen acht in den» Wenzel «gefahren, wo er Barrista tatsächlich beim Frühstück getroffen und mit ihm gemeinsam» ein Ei geköpft «habe, wie er sich ausdrückte. Barrista habe ihn nicht nur über die anderen Gäste aufgeklärt, sondern auch deren Gestik und Redeweise nachzuahmen gewußt.»Saukomisch!«hatte Jörg das gefunden.
Was Barrista vom Erbprinzen erzählt habe, lasse ihn, Jörg, bei aller gebotenen Vorsicht mit Interesse und Neugier der Visite des alten Herrn entgegensehen. Der einzige Vorbehalt auf seiten Barristas sei ein» vernünftiger Wahlausgang «gewesen.
Als Fred auftauchte, stellte ich ihn zur Rede. Er aber machte auf der Stelle kehrt, ließ die Türen hinter sich offen und — schaltete das Licht an. Der Flur erstrahlte in nie gekannter Pracht. Fred behauptete, er habe die Glühbirnen bereits gestern vormittag ausgewechselt, was alle außer mir bemerkt hätten …
In der Hoffnung, daß wenigstens Du mir glaubst!
Dein E.
Lieber Jo!
Jetzt habe ich wieder Deinen Namen getippt, doch jener Mensch, der den letzten Brief an Dich geschrieben hat, selbst derjenige, der vor zweieinhalb Tagen mit den Zeitungsbündeln auf den Markt gezogen ist, erscheint mir heute fremd und kindlich. Erwarte keine Epiphanien! Alles verlief höchst profan. Die Zeitung, die mich beim Korrekturlesen noch so fern und geheimnisvoll anmutete, blätterte ich nun durch, erleichtert allein darüber, daß es keine weißen Stellen gab. Es mußte schnell gehen. Die Fahrer standen sich seit Mittag die Beine in den Bauch. Die Freiwilligen aus der» klartext«-Zeit hatten die Kaufhallen unter sich aufgeteilt. Das Telephon klingelte unentwegt. Nicht mal den Sekt, auf dem Jörg bestanden hatte, habe ich ausgetrunken. Von Georg bekam Robert eine Schaffnertasche samt einem Vorrat an Groschen überreicht. Ich hängte mir eine alte Knautschlackledertasche um, den Schulterriemen quer über der Brust. Dann hasteten wir, jeder mit zwei Bündeln zu je 250 Exemplaren, durch den Nieselregen.
Auf dem Markt, nahe der Sporenstraße, setzten wir die Bündel ab und massierten die betäubten, von blauroten Striemen gezeichneten Finger. Fünf Verkaufsstände drängten sich aneinander, als ängstigten sie sich vor der Weite des Marktes. Uns am nächsten siedelte ein Obst- und Gemüsehändler. Das D-Mark-Schild über der paradiesischen Pracht war so groß wie überflüssig. Die Namen der exotischen Früchte, die er ausrief, hätten ebensogut orientalische Gewürze bezeichnen können. Das eigentlich Märchenhafte aber waren die Tomaten und Gurken, die Birnen und Weintrauben. Die wenigen über den Platz verstreuten Leute konnten kaum der Anlaß seines Rufens sein. Die Geschultheit seiner Stimme trieb die Künstlichkeit der Szene auf die Spitze. Er hätte auch Arien schmettern können.
Ich versuchte, den Knoten an meinem Paket zu öffnen, ließ aber niemanden, der sich uns näherte, aus den Augen. Ich erwartete, jede und jeder würde stehenbleiben und fragen, ob wir die neue Zeitung, das» Altenburger Wochenblatt«, verkauften. Robert starrte auf meine Hände. Er war bereits so unsicher geworden, daß er gar nicht auf die Idee kam, mir sein Taschenmesser zu geben. Bereitwillig ließ er sich dann einen Packen über den Unterarm legen. Ich stellte mich neben ihn und entfaltete die Zeitung, den Titel auf Augenhöhe.
Nachdem die ersten an uns vorübergelaufen waren, ohne sich nach dem Blatt zu erkundigen, riet ich Robert, die Leute anzusprechen. Er müsse schon sagen, was er da hätte. Statt den Mund aufzumachen, spreizte er nun, sobald sich jemand näherte, wie ein ungeschickter Kellner seinen Zeitungsarm weiter ab. Michaela hatte es unverantwortlich gefunden, ihn» zur Kinderarbeit zu verführen«. Um ihn jetzt wegzuschicken, war es zu spät, er mußte einfach durchhalten.
Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu zeigen, wie er es machen sollte. Ich ließ niemanden aus. Ich fixierte die Leute, lächelte und sprach sie an. Auch wer weiter entfernt vorüberging, entkam mir nicht.»Kennen Sie schon das neue ›Altenburger Wochenblatt‹?«rief ich. Niemand blieb stehen, niemand kaufte. Sie sahen mich nicht mal an. Erst am Vortag war ein großer Artikel über uns auf der Kreisseite der LVZ 52erschienen. Selbst die fanden uns wichtig.
Ab und zu wurde ein Fischbrötchen gekauft. Ich weiß nicht, wie mir allein zumute gewesen wäre. Roberts Gegenwart quälte mich.
Plötzlich kam eine ältere Frau, ihren Einkaufsbeutel hin und her schlenkernd, auf uns zu und fragte, was wir denn da hätten.
«Na ja«, sagte sie und betrachtete die Titelseite. Ihr Mantel war falsch geknöpft und hing schief.»Dann geben Sie mal her. «Ihr Arm tauchte bis zum Ellbogen in den Einkaufsbeutel. Ich verlangte neunzig Pfennig und überreichte ihr eine Zeitung aus der Mitte des Stapels. Ihr Zeigefinger stocherte im Kleingeld, bis sie ein Markstück fand. Ich ließ einen Groschen in ihre ausgestreckte Hand fallen. Nachdem sie die Zeitung gefaltet und in ihrem Beutel verstaut hatte, sah sie mich an, als wollte sie sich vergewissern, mit wem sie es zu tun gehabt hatte, und ging nach einem lauten» Wiedersehen «weiter.
Es funktioniert, dachte ich. Schon dieser eine Erfolg machte mich süchtig. Ich brauchte mehr davon. Die Mark gab ich Robert.
Kurz darauf hatte ich erneut Glück. Ein schlanker Mann mit glatten schwarzen Haaren hielt mir ein Markstück entgegen, winkte ab, als ich den Groschen hochhielt, und lächelte derart herzlich, daß seine Augen wie bei einem Kater hinter schrägen Schlitzen verschwanden.
Danach verlor ich alle Bedenken, trat auf zwei Frauen zu und fragte, ob sie das» Altenburger Wochenblatt«, die neue Zeitung für das Altenburger Land, schon hätten. Ich hielt mich an die jüngere. Erst als ich unmittelbar vor ihr stand, bemerkte ich die unzähligen Fältchen in ihrem Gesicht, unter denen ihre mädchenhaften Züge verschwammen. Sie griff bereits nach dem Portemonnaie, als mich ihre ganz in Schwarz gekleidete Begleiterin anfuhr, was das denn sei.»Ist doch nicht wichtig!«unterbrach mich die Schwarze.»Ist nicht wichtig!«Mit dem Handrücken schlug sie gegen die Zeitung und rief:»Neunzig Pfennig? Neunzig Pfennig!«
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