Ob wir uns dahin gehend verständigen könnten, daß der Sozialismus reformiert, aber nicht abgeschafft werden sollte.
«Mit mir«, sagte ich,»müssen Sie sich nicht verständigen.«
Am meisten ärgerte mich, daß Michaela sich von den dreien duzen ließ.
Während ich ihnen die Teetassen hinstellte, sagte Schmidtbauer:»Hiermit eröffne ich die Sitzung des Neuen Forums Altenburg, Thüringen.«
«Wieso Thüringen?«fragte der mit dem langen Bart und den großen Augen.
«Da habe ich eine ganz einfache Antwort«, sagte Schmidtbauer.»Weil Altenburg in Thüringen liegt. Und mit Thüringen fühlen sich die Leute verbunden, da könnt ihr fragen, wen ihr wollt. «Dabei spielte er mit dem Druckknopf seines Kulis.
Nur der mit dem langen Bart widersprach Schmidtbauer, als dieser beantragte, die verschiedenen Arbeitsgruppen des Neuen Forums am morgigen Abend, dem Kirchenabend, noch nicht bekanntzugeben und abzuwarten, was Krenz unternehmen würde.
«Was hat Krenz damit zu tun?«rief der lange Bart.»Kann mir bitte mal jemand erklären, was das mit Krenz zu tun hat?«Er sah der Reihe nach einen jeden mit seinen riesigen Augen an, zuletzt sogar mich.
«Das kann ich dir erklären«, sagte Schmidtbauer.»Wir alle, so wie wir hier sitzen, du«— sein Kugelschreiber deutete zuerst auf Michaela —,»du, du und ich, können im nächsten Moment verhaftet werden. Wenn Krenz — laß mich ausreden —, wenn Krenz den Befehl gibt, dann Gnade uns Gott!«
Der lange Bart meldete sich wie ein Schüler und sah Schmidtbauer unverwandt an.»Na, was denn«, murrte Schmidtbauer und richtete endlich seinen Kuli auf ihn.
«Ich muß dich jetzt mal was fragen, Jürgen. Darf ich das?«
Schmidtbauer nickte.
«Bist du denn nicht stolz, im Neuen Forum zu sein?«
«Was?«Schmidtbauer sah von einem zum anderen, als sollte jeder sehen, wie schwer es ihm fiel, nicht laut loszulachen.
«Ich kann dir nur sagen, daß ich stolz darauf bin«, sagte der lange Bart.»Und das kann jeder wissen. «Er setzte sich aufrecht hin.»Wißt ihr, was ich gestern gemacht habe?«Dann erzählte er, daß die Baufirma, bei der er arbeitet, ihn für eine Reparatur in die Villa der Staatssicherheit geschickt habe. Mittags habe er in deren Kantine gegessen und ein paar Bekannte getroffen. Denen habe er erklärt:»Ich bin im Neuen Forum. Guckt euch mal unser Programm an, da werdet ihr nichts Schlechtes finden! Und dann hab ich gesagt, ich bin stolz drauf, im Neuen Forum zu sein. Das kann jeder hören. Und wenn ich die Wirtschaftsgruppe leiten darf, kann das auch jeder wissen. So, Jürgen, und jetzt kannst du weitermachen.«
Nachdem ich ihnen die Teekanne gebracht hatte, schloß ich Wohnzimmer- und Küchentür. Ich räumte auf und begann vor lauter Ratlosigkeit, den Fußboden zu wischen, bis Michaela mich rief. Sie saßen bereits vor der Glotze.
Als ich Krenz sah, wußte ich, daß nichts passieren würde. Sein Gerede von der nicht real genug eingeschätzten Entwicklung, von Aderlaß und seine neue Empfindsamkeit für die Tränen der Mütter und Väter beruhigten selbst Schmidtbauer. Vielleicht war ich nur deshalb von Krenz, von seiner Gesichtslosigkeit, so überrascht, weil ich nie richtig hingesehen hatte. Diese bedauernswerte Kreatur sprach, als ekelte ihn jedes Wort, als wäre diese Rede ein Fraß, den er vor aller Welt herunterzuwürgen habe. Zudem kannte ich ihn nur im Schillerkragen, wie meine Mutter es nannte, wenn die Funktionäre den Kragen des Blauhemds 319über den ihres grauen Anzuges schlugen. Mit weißem Hemd und Krawatte sah er aus wie ein Zirkusbär.
Als die drei gegangen waren, öffnete ich das Fenster, und Michaela sagte, daß sie nun nicht mehr ins Theater fahren müsse. Zusammen mit Jörg, dem kleinen Bärtigen mit der Baskenmütze, werde sie die Medien- und Kulturgruppe des Neuen Forums leiten. Ich fragte, ob Leute wie Schmidtbauer es wert seien, sich ihretwegen zu gefährden. Michaela sagte, Schmidtbauers Frau habe ihn mit zwei kleinen Kindern sitzengelassen. Wie würde ich denn reagieren, wenn an unserem Auto morgens plötzlich alle Radmuttern locker wären?
Wieso bemerkte Michaela Schmidtbauers Kleinkariertheit nicht, seine Geltungssucht und Empfindungslosigkeit? Doch je mehr ich mich über ihn aufregte, desto lächerlicher schien ich in ihren Augen zu werden.
Am nächsten Morgen ging es genauso weiter. Da Michaela abends Probe hatte, sollte ich sie vertreten und in der Kirche über das Berliner Treffen und die angemeldete Demonstration sprechen. Ich weigerte mich.»Und warum?«fragte Michaela. Sie klang so hart, so kalt, als hätte ich sie betrogen.»Darf ich das wissen?«
«Weil ich mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben will«, sagte ich und äffte das wichtigtuerische Kopfnicken des Bassisten nach.
In der Art, wie Michaela die Luft durch die Nase blies, lag so viel Verachtung, daß ich ahnte, was uns bevorstand. Fünf Minuten später sagte sie:»Ich verstehe dich nicht, Enrico. Ich kann dich einfach nicht mehr verstehen. «Ich schwieg und ging abends in die Kirche.
Eigentlich war alles so, wie ich mir früher den zukünftigen Ruhm ausgemalt hatte. Ich lief durch ein regelrechtes Spalier nach vorn, die Leute erkannten mich wieder, und manche riefen mir sogar etwas zu. Jemand forderte, ich solle die Sache hier in die Hand nehmen. In der ersten Reihe rechts war für mich der Platz am Mittelgang reserviert. Es war mir unangenehm, Michaelas Namen und unsere Adresse auf einem gut sichtbar aufgehängten A1-Blatt zu lesen, das zur Mitarbeit in der Medienund Kulturgruppe einlud.
Sie begannen mit einiger Verspätung. Reden, Musik, Reden. Nach einer Dreiviertelstunde war ich endlich dran. Es war so still, als hielten die Leute tatsächlich den Atem an. Ich berichtete von dem Treffen in Berlin. Dafür brauchte ich eine Minute. So beiläufig wie möglich fügte ich hinzu, daß wir für den 4. November eine Demonstration angemeldet hätten. Wieder gab es Jubel, wieder zogen die Leute auf die Straße, wieder kam Pfarrer Bodin nicht mehr zu Wort. Und als ich aus der Kirche kam, standen auch wieder die beiden Polizisten da. Der Blonde lächelte. Der Schwarze drehte sich vor Aufregung um die eigene Achse. Wir gaben uns die Hand. Dieselbe Strecke wie letztes Mal, sagte ich. Daraufhin stiegen sie in ihren Lada. Ich redete mich auf Robert heraus und fuhr gleich nach Hause.
Von da an fällt es mir schwer, die Tage zu unterscheiden. Ich beteiligte mich an nichts mehr, und Michaela war zu stolz, mich um etwas zu bitten.
Wenn ich allein war, lag ich in meinem Zimmer, einen Unterarm über den Augen, und versuchte, meine Gedanken möglichst weit weg von mir und der Gegenwart zu halten. Meistens dachte ich an Fußball.
Vielleicht haben Sie von dem legendären Viertelfinalspiel im Europapokal der Pokalsieger gehört, zwischen Dynamo Dresden (der Mannschaft meines Herzens) und Bayer 05 Uerdingen, am 9. März 86, einen Tag nach dem Internationalen Frauentag. Ich weiß bis heute nicht, wo Uerdingen liegt. Dresden hatte zu Hause mit 2: 0 gewonnen und spielte in Uerdingen groß auf, der» Dresdner Kreisel «lief. Ich erinnere mich noch an Klaus Sammer, unseren Trainer, wie es ihn von seiner Bank hochriß, als das 3: 1, ein Eigentor der Uerdinger, fiel und er über eine Werbebande sprang und abwinkte.»Das war’s «sollte diese Geste wohl heißen. Vor dem Fernseher wunderte ich mich, daß die Zuschauer weiter im Stadion ausharrten.
Dresden hätte sich in den verbleibenden fünfundvierzig Minuten vier Gegentore leisten können und wäre trotzdem im Halbfinale gewesen. In der 58. Minute fiel dann ein Tor für Uerdingen. In der Verfassung, in der ich mich befand, schien mir dieses Tor seine Entsprechung im Verbot des» Sputniks «und der Verleihung des Karl-Marx-Ordens an Ceausçescu zu haben. Das 3: 3 wenig später setzte ich dem Wahlbetrug vom 7. Mai gleich. Das 4:3 für Uerdingen bedeutete soviel wie die ungarische Grenzöffnung, dem 5: 3 entsprachen die Montagsdemonstrationen. Niemand zweifelte zu diesem Zeitpunkt noch am 6: 3, das dann auch fiel und Dresden ausscheiden ließ. Was aber würde das 6: 3 im Herbst 89 sein? Reisefreiheit für alle? Und das 7:3? Das 7:3 — so das Endresultat — interessierte mich schon nicht mehr.
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