Ich riet ihnen, zum Großen Teich zu fahren, wo der Demonstrationszug nach rechts in die Teichstraße einbiegen würde. Die Teichstraße kennen Sie ja, eine Ruine neben der anderen, das Sinnbild des Verfalls. Die Teichstraße müsse auch von oben her gesperrt werden, sagte ich.
Die drei stimmten mir zu, und der Blonde fragte, ob ich mitfahren wolle.»Ja, bitte, kommen Sie mit«, rief der Dicke und quetschte sich nach hinten, während ich vorn Platz nehmen durfte. Mit Blaulicht bretterten wir durch die Frauengasse. Um am Brückchen abzubiegen, war es bereits zu spät. Erst zwischen Kleinem Teich und Kunstturm kamen wir wieder auf die Arbeitereinheit und rasten mit Tatütata auf die Kreuzung am Großen Teich. Ich versuchte, die drei zu beruhigen. Selbst wenn die Absperrung der Teichstraße von der anderen Seite her zu spät käme, sagte ich, könne der Wagen der Demonstration voranfahren. In Leipzig, belehrte ich sie, habe es nie Probleme gegeben. Der Blonde, der als Fahrer auch den Sprechfunk betätigte, blieb als einziger im Wagen, die anderen beiden sperrten die Kollwitzund die Zwickauer Straße, was Unsinn war, weil beide Straßen die einzige Umgehung für die lahmgelegte Innenstadt bildeten. Ich sagte es dem Blonden. Er nickte, griff nach seiner Mütze und eilte zu den anderen.
In der mittäglichen Sonnabendruhe lehnte ich am Wagen und hörte auf die Sprechchöre.
Und plötzlich lag sie da — eine Pistole. Genauer: ein weißer Ledergürtel mit Halfter und darin die Pistole, direkt vor der Fahrertür. Und genauso plötzlich wußte ich: Die ist für dich! Ich bückte mich, hob den Gürtel auf, nahm die Pistole heraus, schob sie ohne jede Eile in meinen Hosenbund und zog den Pullover darüber. Das leere Halfter beförderte ich mit einem Tritt unters Auto.
Ich glaube, ich habe gelächelt, als erlaubte ich mir einen Scherz. Der Blonde kam, warf sich auf den Fahrersitz und rief irgendeine Bezeichnung in die Funksprechanlage, sah dann zu mir auf und sagte:»Alles balleddi.«
Liebe Nicoletta, ich müßte längst in der Redaktion sein. 321Fortsetzung folgt. Sehr herzlich, wie immer,
Ihr Enrico T.
Lieber Jo!
Es tut mir so leid, daß Du es auf diese Art und Weise erfahren mußtest. Natürlich hätte ich derjenige sein sollen, der Dir von unserer Trennung erzählt. Ich habe es aber einfach nicht aufs Papier gebracht, als würde der Verlust erst dadurch endgültig, als gäbe ich damit den letzten Rest Hoffnung auf. Ich wollte hier mit Dir darüber reden, es sollte das erste sein, was Du von mir zu hören bekommst. Und dann läufst Du dem neuen Paar in die Arme … 322
Jo, mein Lieber, was soll ich sagen?
Letztes Jahr, in den Wochen, in denen ich lebendig beerdigt im Bett lag, mußte ich mit ansehen, wie Michaela an mir irre wurde. Obwohl ich leer und taub war, spürte ich doch mit jeder Faser, wie ihre Liebe zu mir aufgezehrt wurde, jeden Tag ein Stückchen mehr.
Glaub mir: Als ich aus diesem Alptraum erwachte, war ich voller Hoffnung und voller Liebe. Und ich wußte, was ich zu tun hatte. Michaela hat nie verstanden, daß ich ihretwegen beim Theater kündigte. Ja, ich tat es für Michaela und Robert, für uns drei.
Es war auf einem Spaziergang zu Beginn des Jahres gewesen, es hatte geschneit, und wir gingen zu dritt quer über die Felder, als ich plötzlich sah, wie wunderbar mein Leben sein könnte. Ich begriff, wie armselig, berechnend und lieblos mein ganzes Tun gewesen war. So wie bisher war es nicht länger möglich zu leben und nicht möglich zu schreiben. Anstatt meinen Figuren Odem einzuhauchen, hatte ich mein eigenes Leben unter dem Pesthauch der Kunst verdorren lassen. Das erkannte ich, als mich Robert — ein Splitter war mir ins Auge geraten — über das verschneite Feld führte. Ich wollte mich retten und damit auch Michaela, vor allem aber den Jungen. Ich hoffte, ein neues Leben würde uns glücken. Michaela und ich schliefen sogar wieder miteinander, und ich war mir sicher, daß sie bald schwanger werden würde.
In meiner Verzweiflung denke ich manchmal, Michaelas Liebe hätte nur ein paar Wochen länger reichen müssen, und wenn Barrista erst heute in der Stadt einträfe, würden seine Zauberkünste gar nichts mehr bewirken. Dabei bin ich es gewesen, der ihm den Boden bereitet hat, ich habe ihm Michaela regelrecht zugeführt. Solches Garn spinne ich in meinen schwarzen Stunden. Ich will es immer noch nicht wahrhaben, Michaela und Barrista! Er hat sie einfach überrumpelt. Er ist ja die Überrumpelung schlechthin!
Michaela sieht das natürlich anders. Ihrer Meinung nach gehorcht unsere Trennung einer inneren Notwendigkeit. Sie hat bis zur Selbstaufgabe um mich gekämpft. Und ausgerechnet ich lasse sie dann im Stich, übe Verrat an ihr und am Theater. Sie blieb allein zurück, mit dem Rücken zur Wand. Sie meint, wir wären schon kein Paar mehr gewesen, als der Baron auftauchte. Das stimmt natürlich nicht, wie so manches, was sie jetzt behauptet. Michaela sah sehr klar, was ihr die Verbindung mit dem Baron ermöglichen würde — und konnte nicht widerstehen. Er hat sie nicht nur gerettet, er verschafft ihr auch Genugtuung, vielleicht sogar Rache. Mit diesem Handstreich hat sie alle übertrumpft, nicht zuletzt mich. Von ihrer Höhe aus betrachtet bin ich nur einer dieser vielen täppischen Anfänger. Selbst ihre überlebensgroße Thea ist jetzt bloß noch eine von jenen, die gezwungen sind, sich für Geld auf der Bühne zu prostituieren. Michaela hat Dir sicher von der Flugschule erzählt. Sie spricht ja von nichts anderem mehr. Hoch über der Stadt zu kreisen, während alle anderen Erdenbewohner zur Arbeit kriechen, gilt ihr als Inbegriff des Triumphs.
Ihr schlechtes Gewissen jedoch macht sie reizbar, zumal Robert auf meiner Seite steht. Wahrscheinlich hat Michaela Dir von Nicoletta erzählt — jener Frau, die bei dem Unfall im März mit im Auto saß. Michaela hat Briefe von mir an sie gelesen 323— und natürlich nichts Anstößiges gefunden. Allein die Tatsache, daß ich einer» wildfremden Frau «anvertraue, was ich ihr» verschwiegen «hätte, stilisierte Michaela zum Anlaß unserer Trennung hoch. Ach, Jo, ich wünschte mir ja, ihre Vorwürfe stimmten, dann würde ich die Trennung wahrscheinlich besser verkraften. Es ist so absurd. Ich weiß nicht einmal, ob Nicoletta einen Freund hat, ob sie allein oder mit jemandem zusammenwohnt und was sie von meinen Episteln hält, die ich ihr morgens schreibe, wenn ich nicht mehr schlafen kann. Nicoletta ist die ideale Person — zumindest jene Nicoletta, an die ich beim Schreiben denke —, der ich von früher erzählen kann. Ihr Bild vor Augen begreife ich, was mit uns passiert ist.
Nicoletta glaubte mir nicht, daß ich das Theater freiwillig verlassen hätte, um so ein Provinzblättchen zu machen. Ihre Vorstellungen von Schriftstellern und Künstlern ähneln jenen, die meine Mutter hegt — obwohl die ja die Welt jetzt» ganz sachlich «sieht. Zudem hat Nicoletta zehnmal mehr Marx und Lenin gelesen als wir alle zusammen. Sie ist nicht so wie Roland, Veras alter Verehrer, aber sie spricht immer noch von Ausbeutung und Kapitalismus, ja selbst Begriffe wie aggressiver Imperialismus oder» Militärisch-industrieller Komplex«(angeblich eine Bezeichnung des ehemaligen US-Präsidenten Eisenhower) kommen ihr problemlos über die Lippen.
In ihrer Achtung bin ich rettungslos gesunken, als ich begann,»gemeinsame Sache «mit Barrista zu machen. Barrista ist für sie das Böse schlechthin. Ich versuche nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, doch mein Ehrgeiz ist es, ihr klarzumachen, warum ich dieses Leben gewählt habe. Und das versteht nur, wer weiß, wie wir gelebt haben.
Ich rede wirklich nicht von Liebe. Dazu bin ich auch noch gar nicht in der Lage.
Außerdem, und nicht mal das war bisher gegeben, wünsche ich mir eine Liebe Ebenbürtiger, die unter gleichen Voraussetzungen handeln. Ich will eine Liebe ohne alle Vertracktheit und Verrenkungen. Ich will Weckerklingeln am Morgen und das Abendbrot immer zur gleichen Zeit, ich will Urlaub und Sonntagsausflüge. Ich will eine Familie. Ja, ich sehne mich nach Bürgerlichkeit, nach Ordnung, in mir und um mich. Nicoletta liefe wohl davon, wenn ich ihr das beichten würde.
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