Michaela, die kurz darauf eintraf, 317blieb mit offenem Mantel neben uns stehen.»Wirklich?«fragte sie.»Hundertfünfzigtausend!?«Sie sah unentwegt in den Fernseher, obwohl dort schon etwas ganz anderes lief.
Am Dienstag morgen warteten Michaela und ich um neun im Sekretariat, weil Jonas am Montag nicht im Haus gewesen war. Halb zehn bat er uns herein, bestellte bei seiner Sekretärin drei Kaffee und lehnte sich in seinem Thron, der dem Fundus entstammte, zurück. Sein Lächeln blieb nahezu unverändert, während Michaela ihn von dem» Berliner Beschluß«unterrichtete und ihn aufforderte, eine Demonstration für Presse- und Meinungsfreiheit anzumelden.
«War’s das?«fragte er. Ob uns klar sei, was wir da sagten, ob wir das ernst meinten und tatsächlich von ihm erwarteten, zur Polizei zu gehen und eine Demonstration zu beantragen? Solche» Be-schlüs-se«(er sprach, jede Silbe betonend, die Anführungszeichen mit) kümmerten ihn einen feuchten Dreck. Wir könnten uns gern weiter unglücklich machen und als Privatpersonen so viele Demonstrationen anmelden, wie wir für nötig hielten, sollten dann aber auch unseren eigenen Kopf hinhalten und ihn später nicht um Hilfe bitten, denn das sage er uns jetzt schon, dann könne er gar nichts mehr für uns machen, gar nichts mehr!
Michaela wollte, wie sie sagte, sich nur noch einmal vergewissern: Er sei also nicht bereit, die in Berlin von den Gewerkschaftsvertretern aller Theater beschlossene Demonstration hier in Altenburg zu beantragen?
Er wisse nichts von Beschlüssen der Gewerkschaft. Er könne ja mal die Gewerkschaft hier anrufen, wenn wir das wünschten, vielleicht wüßten die, wovon wir redeten.
«Das bedeutet also nein?«fragte sie.
«Es bedeutet ganz sicher nein«, sagte er. Wir lächelten uns an.»Na dann«, sagte Michaela und erhob sich, als gerade die Sekretärin mit drei Tassen Kaffee erschien.
Nach der Probe gingen wir zur Polizei, 318klingelten und standen im nächsten Moment vor zwei Diensthabenden, der eine schwarzhaarig, der andere blond und pausbäckig. Sie musterten uns von ihren Schreibtischen aus.
«Wir wollen eine Demonstration anmelden«, sagte Michaela, stellte uns vor und gebrauchte dieselben Sätze wie gegenüber Jonas. Der Schwarzhaarige griff zum Telephon, der Blonde sah aus dem Fenster und grinste.
Eine Minute später benutzte Michaela zum dritten Mal an diesem Tag die Formulierung» Berliner Beschluß«und» Treffen der Theaterschaffenden«.
Der Altenburger Polizeichef, ein langer hagerer Mann mit Rundrücken, wirkte, selbst wenn er sprach, abwesend und blickte, wenn er uns überhaupt ansah, allenfalls kurz auf. Nach einer längeren Pause sagte er etwas von Verkehrssicherheit, die er» mit seiner jetzigen Stärke «nicht gewährleisten könne, klagte über die Kurzfristigkeit unseres Anliegens. Danach herrschte Schweigen. Ich betrachtete die Spuren von rotem Bohnerwachs an der Fußleiste des hellen Wandschranks und die schwarzen Striemen der Bohnerkeule.
Plötzlich fragte der Polizeichef, wie denn das Thema unserer Veranstaltung laute.
«Die Zulassung des Neuen Forums, freie und geheime Wahlen, Presse- und Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit — eben alles, was in unserer Verfassung garantiert wird«, sagte Michaela. Der Polizeichef stemmte sich hoch, stellte sich ans Fenster und verschränkte die Arme, was seine Schultern noch weiter nach vorn zog. An seiner Hüfte trug er eine Pistole.
Michaela und ich schlugen gleichzeitig die Beine übereinander, was mir etwas peinlich war.
Ohne sich zu rühren, wies er uns schließlich an, wieder nach unten zu gehen und die notwendigen Formulare auszufüllen, nickte zum Abschied in Richtung Tür und starrte dann weiter aus dem Fenster.
Der blonde Polizist grinste immer noch. Auf seinem Tisch lagen die beiden Formulare für die» Anmeldung einer Veranstaltung im Freien«. Michaela runzelte die Stirn.»Es gibt nichts anderes«, sagte der Schwarze, der glänzende Lippen hatte und mit seinen geschwungenen Augenbrauen mädchenhaft wirkte.
Als Teilnehmerzahl trugen wir zehntausend ein, gaben als Zeitraum 13 bis 15 Uhr an und schrieben in die Rubrik Musik — ungewiß. Unter dem Rubrum» Ort der Veranstaltung «war zuwenig Platz vorgesehen. Bei der Festlegung der Demonstrations-strecke hielten wir uns an die Route, die sich letzten Donnerstag ergeben hatte, nur daß wir die Demonstration am Theater beginnen lassen wollten. Wir unterschrieben beide. Auf die Frage nach dem weiteren Procedere bestellte uns der Blonde für nächsten Dienstag und sah fragend zu seinem dunklen Kollegen hinüber. Der zuckte mit den Schultern und wiederholte» Nächsten Dienstag«. Michaela reichte ihnen nacheinander die Hand, sie schnellten von ihren Stühlen hoch. Auch ich schüttelte ihnen die Hände. Der Pförtner grüßte uns aufgeregt wie alte Bekannte und ließ die Außentür summen.»Wir hätten sie nur noch um ihre Colts bitten müssen«, sagte Michaela draußen.
Am Mittwoch wartete ich am Auto auf Michaela, es war später als sonst geworden. Ich hörte, wie jemand leise meinen Namen rief. Die Sekretärin des Intendanten hatte ihr Fenster nur einen Spalt weit geöffnet und winkte mir zu, als schlüge sie einen Staublappen aus.
«Na! Hörst du schon das Kettenrasseln?«rief mir Jonas entgegen, als ich das Sekretariat betrat.»Hörst du die Panzer noch nicht? Laßt eure Demo sein. Krenz ist neuer Generalsekretär!«
Ich weiß bis heute nicht, was Jonas’ Ausbruch provoziert hat. Er hatte wohl mein Lächeln als Spott mißdeutet. Jonas lief rot an und brüllte:»Krenz war in China!«Und als ich weiterschwieg:»Vor drei Wochen war er dort, vor drei Wochen! Ihr begreift nichts, nichts!«Und knallte die Tür hinter sich zu.
Dabei gab ich ihm ja recht. Auch ich hielt die» chinesische Lösung «für möglich, ja in gewisser Weise für folgerichtig.
Michaela und ich trafen an der Pforte zusammen. Sie empörte sich über Amanda, die Requisite, weil die vor der Probe alle umarmt und sich verabschiedet hatte — in den Westen.»Die hat die ganze Zeit einen Ausreiseantrag laufen, hält den Mund und ist nun fein raus!«In der Kantine hatten sie gestritten. Angeblich war aus der Intendanz der Vorschlag gekommen, die» Krähwinkel«-Premiere abzublasen.»Wegen Krenz«, hieß es.
Michaela saß neben mir im Auto und spielte mit dem Henkel ihrer Handtasche. Sie war nicht davon abzubringen, zu einem Treffen des Neuen Forums zu gehen. Dort sei sie vielleicht sicherer als zu Hause, sagte sie. Danach wollte sie ins Theater, damit nicht ausgerechnet heute das Verlesen der Resolution ausfiele.»Das wäre ein ganz falsches Zeichen«, sagte sie. Ich bot ihr an, sie zu fahren, ihr war es aber lieber, wenn ich bei Robert blieb.
Kurz vor sieben lagen wir uns in den Armen. Michaela streichelte meine Wange, ihre Handflächen waren kühl.»Ich beneide Amanda«, sagte Michaela und wollte mich küssen — da klingelte es. Wir erstarrten. Robert öffnete lautlos die Zimmertür. Wir sahen einander an und warteten. Auch das zweite Klingeln war kurz.
Vor der Tür stand Schmidtbauer, der Gründer des Altenburger Neuen Forums, und plinkerte mit den Augen. Bei ihm waren ein kleiner Bärtiger mit Baskenmütze, der als einziger lächelte, und ein Mann mit langem Bart und einer Brille, die seine Augen um ein Mehrfaches vergrößerte. Ich kam gar nicht dazu, etwas zu fragen oder sie zu bitten, ihre Schuhe anzubehalten, so selbstverständlich marschierten sie in ihren Socken bei uns ein.
Mir war der Anblick der neben dem Abtreter zurückgelassenen Schuhe unangenehm, ja peinlich. Außerdem ärgerte ich mich über die stumme Selbstverständlichkeit ihrer Invasion. Schmidtbauer hatte die» Sitzung «kurzerhand zu uns verlegt. Da wir kein Telephon besaßen, hatten ausgerechnet wir davon nichts erfahren.
Im Vorraum wandte sich Schmidtbauer nach mir um.
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