Ach, Jo, mein Lieber, es passiert jeden Tag so viel. Als ich auf den Parkplatz kam, lehnte eine Frau an meinem Wagen. Ihr war es peinlich, daß ich sie eher gesehen hatte als sie mich. Es war die Frau von Ralf, dem Braunauge, mit dem zusammen ich im Januar bei der Sitzung des Neuen Forums an einem Tisch gesessen hatte. Ralf verliert am ersten Juli seine Arbeit als Fahrzeugschlosser.»Er spricht nicht, er schläft nicht, er ißt nicht«, sagte sie. Und jetzt soll ich helfen! Wir verabredeten einen Termin, an dem Ralf und sie kommen sollten. Dann beging ich den Fehler, sie nach Hause zu fahren.»Dort sitzt er, dort hinterm Fenster«, sagte sie beim Aussteigen und bat mich, doch gleich mitzukommen.
Ich habe so etwas noch nie erlebt. Er sah kurz auf, grüßte aber nicht zurück, wandte sich ab und ließ mich reden. Was sollte ich sagen? Ich kann ihn ja schlecht als Akquisiteur einstellen! Es war völlig sinnlos. Mein Auftritt nahm seiner Frau wohl den letzten Rest Hoffnung. Als ich versprach, in ein paar Wochen wiederzukommen, heulte sie los.
Ich fuhr danach in die» Schiedsrichterklause«, allerdings in einem großen Bogen über die Felder, das Dach zurückgeklappt, um mich so richtig durchlüften zu lassen.
Zum Schluß noch etwas Erfreulicheres: Ich soll Dich von Nikolai grüßen, dem schönen Armenier. Der ist inzwischen mit einer Jugoslawin verheiratet. Wir haben Wetten auf das Spiel abgeschlossen. 316Wer verliert, kommt den anderen besuchen …
Sei umarmt, Dein E.
Liebe Nicoletta!
Mit der Kirchenrede hatte ich mein Pulver verschossen, was in meiner Macht stand, war getan. Ich wußte nicht weiter. Ich empfand eine große Leere. Michaela sprach von Depression und ließ sich diesen Begriff auch nicht mehr nehmen. Verdenken konnte ich es ihr nicht. Schließlich hatte sie am meisten unter mir zu leiden.
«Die verstehen doch nur, wenn du ihnen die Faust unter die Nase reibst!«kommentierte Mutter meine» Brandrede«. Damit war die Sache für sie erledigt. Robert war unschlüssig, ob er stolz auf mich sein sollte oder ob es sich bei meinem Kirchenauftritt nur um eine weitere Peinlichkeit handelte.
Michaela hatte man am nächsten Tag aus der Probe gerufen. Zusammen mit Anna (die Frau mit der Narbe), dem Langhaarigen, dem Pfarrer Bodin, dem Forum-Mann und noch ein paar Frauen, die wir am Vorabend kennengelernt hatten, wurde sie vom ersten Sekretär der SED-Kreisleitung zu einem Gespräch ins Rathaus geladen. Michaela erzählte von dem alten Rathaussaal mit seiner Holzdecke, dem Sitzungszimmer mit den alten Möbeln und wie erschrocken sie beim Anblick Naumanns, des 1. Sekretärs, gewesen sei. Aus solcher Nähe habe sie ihn noch nie gesehen.
Der zerquetscht einen, ohne mit der Wimper zu zucken, habe sie gedacht. Die Chefs der Blockparteien hätten mit gesenkten Köpfen dagesessen und wären regelrecht zusammengezuckt, wenn Naumann das Wort an sie gerichtet habe. Nur der CDU-Mann, dessen Namen sie sich nicht hatte merken können (Piatkowski), habe sie unverhohlen gemustert. Der Bürgermeister dagegen habe vor Aufregung viel zu laut geredet. Naumann habe mehrmals wiederholt, wie sehr ihn die erste Demonstration in unserer Stadt bewege, was ihr, Michaela, etwas von der Angst genommen habe. Sie habe die ganze Zeit an Robert denken müssen. Piatkowski hingegen habe darauf beharrt, daß sie hier über eine illegale, ungenehmigte Demonstration sprächen, die Menschenleben gefährdet habe, was er als Christ mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne. Er meinte die fehlende Verkehrssicherheit. Sie sollten froh sein, habe darauf der blaulippige Pfarrer Bodin geantwortet, überhaupt Gesprächspartner zu finden. Es gebe da einige, die wären gar nicht mehr bereit zu reden, die wollten Taten sprechen lassen. Erst draußen auf dem Marktplatz sei ihr klargeworden, was Bodin, der Pfarrer, da eigentlich gesagt habe. Das sei eine Distanzierung von mir gewesen, wen sonst sollte er denn gemeint haben.
Sonnabend mittag brachten wir meine Mutter zum Zug. Auf der Rückfahrt fragte Michaela, ob wir nicht Lust hätten, nach Berlin zu fahren, sie habe keine Vorstellung am Wochenende. Ich war einverstanden. Robert hielt das für einen Scherz. Er wollte gar nicht glauben, daß ich bereit war, kampflos ein freies Wochenende, also zwei Schreibtage, zu opfern.
Nachdem Michaela das allabendliche Verlesen der Resolution organisiert hatte, mußte sie uns nur noch bei Thea ankündigen.
Deren Wohnung in der Hans-Otto-Straße, keine Minute vom Friedrichshain entfernt, hat Michaela immer als großbürgerlich bezeichnet. Verglichen mit unserem Neubau war sie es auch. Jedenfalls fanden die vierzig Leute, die sich an diesem Abend dort versammelten, bequem Platz.
Wie sehr hatte ich mich einst an der Vorstellung berauscht, eine solche Veranstaltung als derjenige bestehen zu können, dessen Buch gut sichtbar auf dem Couchtisch neben dem Jugendstilleuchter liegt, veröffentlicht in Frankfurt am Main. Jetzt aber standen dort Salzstangen, und daneben lümmelte, lang und dürr, ***, der vielversprechendste unter den jüngeren Berliner Schauspielern, der sich eine Salzstange nach der anderen in den Mund steckte und das herausstehende Stück geräuschvoll abbrach.
Michaela saß wie ein Hofnarr zu Füßen des Sessels, auf den sich Thea mit untergeschlagenen Beinen zurückgezogen hatte. Sie zupfte an dem Schafsfell, das sie wie eine Eisscholle umgab, und erzählte von Leipzig und der Robbe. Mich erwähnte sie mit keinem Wort. Zuvor hatte Thea mich in der Küche beiseite genommen und in ihrer stets fürsorglich vereinnahmenden Art gemahnt, keine Dummheiten zu machen, nicht den Helden zu spielen, Micki (wie sie Michaela nennt) mache sich große Sorgen. Thea belehrte mich über den Unterschied zwischen Tollkühnheit und Mut. Trotzdem könne sie nicht umhin, mich zu bewundern, wobei sie unvermittelt jenen mädchenhaft-scheuen Ausdruck annahm, der sich bei Schauspielerinnen regelmäßig einzustellen scheint, wenn sie selbst bewundert werden möchten.
Das Berliner Gerede unterschied sich nicht von dem, was ich aus Altenburg kannte, allerdings wurden hier die Berühmtheiten meist nur beim Vornamen genannt, so daß ich oft nicht wußte, wer gerade gemeint war.
Theas Mann, ein perfekter Gastgeber, war der einzige, mit dem ich mich ein paar Minuten unterhielt — über die Kinder, ihre beiden Mädchen, in deren Zimmer Robert verschwunden war.
Gegen elf wollte ich mich schlafen legen, als endlich jemand das Wort an mich richtete. Es war Verena, eine gelernte Töpferin. An ihr fiel mir zuerst die frische glatte Haut ihrer Wangen auf. Von ihrer Arbeit gebe es nicht viel zu erzählen, sagte sie und tat meine Nachfragen mit einem Kopfschütteln ab, wobei sie auf ihre rauhen Handflächen sah. Geradezu demütig hatte sie von» diesem Kreis «gesprochen und ihre Arbeit durch das Lob von» Menschen wie Thea «als geadelt betrachtet.
«Wenn die Mauer weg ist«, entgegnete ich,»werden die alle hier wie die Fische auf dem Trockenen liegen und große Augen machen. Dann wird es gut sein, einen richtigen Beruf zu haben. «Das, was ich als Ermunterung gedacht hatte, ließ sie vor mir zurückschrecken. Jetzt gehe es doch erst richtig los, sagte sie, ohne Zensur, ohne Beschränkung, bald könne man spielen, was man wolle, alles, was verboten sei oder in den Schubladen warte. Von einem» unvergleichlichen Aufbruch «sprach sie und von» nie gekannter Blüte«.
«Aber keiner wird sich mehr dafür interessieren«, sagte ich.
«Warum denn nicht?«rief sie aufgebracht.»Aus welchem Grund?«
«Weil es einfach zu schön wäre«, wich ich aus und spürte, wie schwer Gedanken auf einen zurückfallen, mit denen man allein bleibt.
«Thea findet immer und überall ein Theater«, sagte Verena, dessen sei sie gewiß.
Vielleicht wäre der Eklat vermieden worden, wenn mich nicht Thomas gebeten hätte, mit ihm ein paar Flaschen aus dem Keller zu holen. Ich sah noch, wie sich Verena zu dem Kreis um Thea setzte.
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