Ich bat ihn, sich alles noch einmal zu überlegen, am Mittwoch, in der Redaktionssitzung, würde ich das Thema erneut zur Sprache bringen.
Das hoffe er nicht, sagte er, womit er mir den Rücken zukehrte. Vielleicht war es einfach Feigheit, die mich hinderte, sofort die Entscheidung zu suchen. Jedenfalls erschien mir gestern früh (wie lang ist das her!) die Erinnerung an dieses Gespräch wie ein böser Traum, der mit dem neuen Tag vorbei und vergessen sein sollte, so sehr vertraute ich meinen Argumenten.
Sie aber hielten meine Freundlichkeit für Schwäche. Ilona, der ich noch vor ein paar Tagen eine neue» Operntasche «verehrt hatte, war zu beschäftigt, um beim Grüßen von ihrer Arbeit aufzusehen, Jörg murmelte irgendwas im Vorbeigehen, Marion übersah mich völlig, Fred besprach, in den Türrahmen gelehnt, etwas mit Ilona (plötzlich verstehen sie sich, plötzlich hatte Ilona Zeit), was ihn so in Anspruch nahm, daß er mir nur wie einem zufälligen Kunden zunickte. Selbst Kurt huschte schnell in sein Zimmer. Pringel war ständig unterwegs. Allein Astrid, der Wolf, kam mir wie jeden Morgen freudig entgegengesprungen. Aber seit Ilona auf Astrids Spielball getreten ist und sich den Fuß verknackst hat, beargwöhnt sie sogar diese Begrüßung. Frau Schorba präsentierte mir die Ausbeute der Akquisiteure, ohne den ganzen Kladderadatsch auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Sie lächelte, das Geschäft läuft unglaublich gut.
Daß ich mich dann ausgerechnet zu Georg, meinem alten Chef, flüchten würde! Ich traf ihn auf dem Markt, bei den Fischbrötchen. Obwohl wir erst vor zwei Monaten bei ihm ausgezogen sind, habe ich Georg kaum wiedererkannt, so anders waren seine Bewegungen. Keine Spur mehr von dem steifen Ritter auf seinem Pferd. Auf seinen langen Beinen bewegt er sich jetzt geradezu geschmeidig. Verschwunden sind auch die Wurzelfalten zwischen den Augenbrauen und auf der Stirn. Zur Begrüßung hätte er mich fast umarmt. Ob ich einen Kaffee oder Tee bei ihm trinken wolle. Ich bejahte, allein schon um nicht gleich wieder in die Redaktion zu müssen.
Die Gartenpforte ist jetzt von Rosen überwuchert. Wie aber staunte ich, als ich beim Betreten der alten Redaktionsstube den gleichen Bildschirm wie bei uns und daneben den Apple erkannte. Sein Drucker ist etwas kleiner als unserer.
Der Baron hat zwei Bücher angeregt und jeweils tausend Exemplare im voraus bezahlt. Das Buch über den Erbprinzen wird das erste sein, dann ein Buch über die Juden in Altenburg und Umgebung und über ihre Vertreibung. Er selbst habe so viele Ideen, sagte Georg, die reichten für Jahre. Obwohl das Barometer, die Uhr und die Briefwaagen, überhaupt alles noch an seinem Platz war, schien ich mich in einem ganz anderen Raum zu befinden. Genauso erging es mir mit dem Garten, der nun grün und voller Blumen ist und an seinen Rändern nahezu undurchdringlich.
Franka umarmte mich, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekehrt. Als ich die große Kaffeetafel im Garten sah, an der die drei Jungen mit ihren Großeltern auf uns warteten, gestand mir Georg, heute Geburtstag zu haben.
So verbrachte ich eine heitere Stunde im Kreise seiner Familie. Georg erzählte von einer merkwürdigen Begegnung. Vor ein paar Tagen, es schüttete wie aus Eimern, klingelte es spätabends bei ihnen. Vor ihm stand eine kleine, völlig durchnäßte Frau, der die Haare am Kopf klebten. Sie trat ein und fragte, ob sie bei ihnen übernachten dürfe, ihr Auto sei kaputt und im» Wenzel «gebe es für alles Geld dieser Welt kein Bett mehr. Im selben Augenblick, da er sie fragen wollte, warum sie ausgerechnet bei ihnen klingele, erkannte er sie: Die Zeitungszarin aus Offenburg. Franka und Georg übernachteten selbst auf Luftmatratzen, damit ihr Gast in einem richtigen Bett schlafen konnte. Am nächsten Morgen aber saß die Zeitungszarin bleich und mit Augenringen in der Küche und behauptete, keine Minute geschlafen zu haben, das Bett sei eine Katastrophe.
In Frankas Sachen, die ihr zu groß waren, machte sie sich dann bald auf den Weg. Das Bad duftet angeblich immer noch nach ihr.»Eine richtige Millionärin«, sagte Franka zum Schluß.
Später stieg ich mit Georg den Hang hinauf. Während wir über die Stadt bis hin zu den Pyramiden sahen und die Augen mit den Händen vor der Sonne beschirmten, erzählte ich ihm von meinen Nöten.
«Ihr müßt es machen, wie du es sagst, genau so, sonst habt ihr keine Chance!«pflichtete mir Georg bei. Ich hatte Zurückhaltung und Bedenken, wenn nicht gar Widerspruch erwartet. Nun aber sprach ich wie befreit.
Wäre doch Jörg dabeigewesen! Dort oben auf dem Berg hätte ich ihn überzeugt! Nie zuvor hatte ich mir selbst die Notwendigkeit eines Anzeigenblattes so deutlich vor Augen geführt.
Laut Georg ist es beschlossene Sache, daß die großen Konzerne die Parteizeitungen unter sich aufteilen, allerdings nach Ländern geordnet. Da Altenburg Thüringen zugeschlagen werde, blieben wir die einzigen Grenzgänger und könnten eines nicht allzu fernen Tages von Ronneburg bis Rochlitz, von Meerane bis vor die Tore Leipzigs jeden Haushalt beliefern, wir würden nicht nur die Region zusammenhalten, wir wären auch ein kleines Imperium mit Altenburg als Zentrum.
Wir ergingen uns in Schätzungen über die Auflage — ich rechne mit hundert- bis hundertzwanzigtausend —, und ich begriff, daß der Baron unrecht hat. Denn es ist vollkommen belanglos, ob man reich werden will oder nicht! Ganz gleich, zwischen wie vielen Möglichkeiten man zu wählen glaubt, es gilt immer nur eine Entscheidung zu treffen, nämlich die, die das Überleben sichert. Ja, am Ende gibt es immer nur das Richtige oder das Falsche. Und letztlich ist es viel schöner, selbst etwas zu tun, als über das, was andere getan haben, zu schreiben. 304
Noch auf dem Rückweg gab ich die Stempel für unser SONNTAGSBLATT in Auftrag.
In der Redaktion empfing mich Frau Schorba mit einer Hiobsbotschaft. Das Käferchen ist gestorben, der Alte sinnt auf Rache. Wenn er zurückkommt, schützt mich niemand vor ihm, denn weder darf er von der Polizei in Gewahrsam genommen noch in die Psychiatrie gesperrt werden, bevor er nicht irgend etwas angerichtet hat. Zumindest Marion wir sich darüber freuen.
Die morgendliche Stunde, in der mir Frau Schorba Nachhilfe am Computer gibt, ist wie das Atemholen für den ganzen Tag. Komme ich nicht weiter, sagt sie mir vor, doch so, als wäre ich sowieso im nächsten Augenblick selbst draufgekommen. Ihre Ungeduld verrät nur die Oberlippe, die wie eine rosa Raupe auf dem scharfen Strich ihrer Unterlippe hin und her kriecht. Meine erste selbstgesetzte Anzeige waren Cornelias» Italienische Wochen für Fußballfans«. Das WM-Signet haben wir aus der LVZ ausgeschnitten und einfach aufgeklebt.
Während ich auf Fred wartete, lähmten mich die Gedanken an die bevorstehende Auseinandersetzung am Nachmittag. Vor mir lagen Freds Listen von den Landtouren. Ich verglich die Zahlen der letzten beiden Wochen auf dem obersten Zettel miteinander. Mal war ein Exemplar weniger verkauft, mal drei. Im besten Fall stagnierte es. Die Summe jedoch wies ein Plus von dreißig verkauften Zeitungen aus!
Von den zehn Listen, die ich bis zu Freds verspätetem Eintreffen überprüft hatte, stimmten zwei. Die Rechenfehler brandmarkte ich mit rotem Filzstift und Ausrufezeichen. Eigenartigerweise wogen die Fehler einander mehr oder minder auf.
Als er hereinkam, war gerade Manuela, unsere Wunderwaffe, bei mir (sie bringt mehr Anzeigen als die drei anderen Akquisiteure zusammen). Fred, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände über dem Bauch gefaltet, verdrehte die Augen, um kundzutun, für wie überflüssig er es hielt, daß ich mir Manuelas Tratsch anhörte. Als er auch noch den Kopf schüttelte, reichte ich ihm wortlos seine Listen. Würde ich ihn nicht kennen, sagte ich, müßte ich Betrug unterstellen. Dann verabschiedete ich Manuela und bat sie, mir Ilona nach hinten zu schicken.
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