Als wir uns nach der Probe trafen — natürlich war an eine richtige Probe nicht zu denken gewesen —, fuhren wir zu Tante Trockel. Die würde, sollten wir uns bis zehn nicht gemeldet haben, nach Robert sehen. Danach gingen wir noch in die Kaufhalle — das Angebot war unglaublich gut, ich erinnere mich jetzt nur an die Gläser mit Gewürzgurken, plötzlich schienen davon Unmengen verfügbar zu sein, ebenso H-Milch und Ketchup. Unser Kühlschrank war später so vollgestopft wie vor Weihnachten. Michaela legte zweihundert Mark auf den Küchentisch, dazu unseren Vorrat an Telephonzwanzigern, das restliche Münzgeld und die Kliniknummer meiner Mutter. Ich schrieb die Nummer von Geronimo dazu. Robert begann erst beim Anblick der Geldscheine zu ahnen, wie sehr sich dieser Nachmittag von allen anderen unterschied. Er wollte mit. Ich war dafür, Michaela dagegen. Sie sprach mit ihm in seinem Zimmer. Als sie wieder herauskam, sah ich, daß sie geweint hatte. Gegen vier starteten wir; aus dem Theater hatte sich niemand von Michaelas komfortablem Angebot zum Mitfahren bewegen lassen.
Hinter Espenhain wurden wir herausgewinkt, Verkehrskontrolle. Ich hätte nur die Papiere zu Hause vergessen müssen oder ein Blinklicht demolieren, womöglich wäre dann die Reise schon vorbei gewesen. Man wünschte uns gute Fahrt. Bevor ich wieder ins Auto stieg, ließ ich meinen Blick auf den mickrigen Bäumen und Sträuchern ruhen, die den Parkplatz umgaben — in diesem Moment erschien er mir wie eine Idylle. Es war verhältnismäßig warm. Mir kam es so vor, als hätte ich seit Jahren nicht mehr ans Schreiben gedacht.
Kurz vor Leipzig begann sich Michaela zu schminken. Wir könnten doch noch einen Schaufensterbummel machen, sagte sie, Zeit hätten wir ja. Dabei legte sie mir eine Hand auf den Schenkel, als wolle sie mir Mut machen.
Was folgte, ist schnell erzählt:
Wir parkten vor dem Dimitroffmuseum. Direkt gegenüber, in einer Nebenstraße, standen LKWs der Kampfgruppen. Aus großen Kübeln wurde Tee an die Uniformierten verteilt. Sie schienen keine Waffen zu tragen. Wir überquerten die Straße und kamen bis auf zehn Meter an sie heran. Die wenigen, die uns bemerkten, sahen schnell weg.
Wir gingen am Neuen Rathaus vorbei zur Thomaskirche. Ein bißchen benahmen wir uns wie Touristen, denen man eine Stunde Freizeit gelassen hat, bevor ihr Bus weiterfährt. Wir umrundeten die Kirche und blieben eine Weile vor dem Denkmal Johann Sebastian Bachs stehen. Michaela zog es in den gegenüberliegenden Buchladen. Gerade in einer Situation wie dieser, sagte sie, sei es schön, von Büchern umgeben zu sein. Ich gehorchte meinem Reflex, doch noch bevor ich die ersten Meter des Regals überflogen hatte, war mir klar, daß ich nichts kaufen würde. Ich sah überhaupt keinen Sinn mehr darin, ein Buch auch nur in die Hand zu nehmen. 298
Es muß dann schon in der Nähe der Oper gewesen sein, als wir auf eine ganze Reihe von diesen Mannschaftswagen stießen. Wir liefen an ihnen vorbei, und es war fast so, als würden wir sie besichtigen. Ein paar Uniformierte stapften hin und her, den Blick auf ihre Gerätschaften gerichtet. Sie hatten auch Hunde dabei und Wasserwerfer.
Am Gewandhaus blieben wir stehen. Von den Eingangsstufen aus konnte man den ganzen Platz übersehen. 299
Liebe Nicoletta! Sie werden vielleicht annehmen, wir hätten in diesen Stunden irgendwelche gewichtigen Gespräche geführt, Gespräche über die Zukunft und über Robert, oder uns wenigstens versprochen, von nun an jeden Augenblick unseres Lebens zu genießen und einander zu lieben. Aber nichts von alldem.
Weil ich die Staatsmacht nie zuvor derart bedrohlich zu Gesicht bekommen hatte, war es gerade dieser Anblick, der alles so unwirklich machte. Jedesmal wenn eine Kolonne Mannschaftswagen aus Richtung Grassi-Museum auf den Ring einbog, hupten die Autos dagegen an, Pfiffe gellten. Waren die Wagen vorbei, wurde es wieder ein schöner Oktobernachmittag mit Leuten, die einander zulächelten, die Buchläden durchstreiften und auf die Straßenbahn warteten.
Ich erklärte Michaela, deren Einkäufe ich trug, aus welcher Richtung die Demonstranten kommen würden, falls man sie überhaupt bis auf den großen Platz ließe. Wären sie erst mal hier, könne sie nichts mehr aufhalten. Wir hatten einen geradezu idealen Standort gefunden. Von hier aus konnten wir flüchten oder teilnehmen oder einfach verharren. Wer wollte einem verbieten, mit einer Buchtüte unterm Arm vor dem Gewandhaus zu stehen?
Plötzlich drangen von allen Seiten Geräusche auf uns ein. Aus Lautsprechern tönte ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit 300, und zugleich hörte ich die Sprechchöre laut und nah. Unversehens war sie da, die Demonstration, wir hatten es gar nicht gemerkt. Von einer Sekunde auf die andere war der Opernplatz voller Leute, als hätten sie Tarnkappen abgeworfen. Wir selbst waren die Demonstration! Jetzt ist es zu spät, dachte ich. Michaela knetete meine Hand. Ich wollte ihr sagen, sie brauche nun keine Angst mehr zu haben, als sie mich wegzog. Michaela strebte auf einen Mann zu, der mit seinem Schnauzer und dem kahlen Kopf aussah wie eine Robbe. Sie umarmten sich. Er trug eine Brille aus dem Westen und tat so, als habe er mich gar nicht bemerkt. Mindestens eine halbe Minute lang wartete ich hinter Michaela und sah ihn über ihre Schulter hinweg an. Irgendwann sagte sie:»Das ist Enrico, der ist auch am Theater. «Ich fragte, was er denn mache, worauf Michaela» Das ist ***!«rief. *** nickte kurz wie in Gedanken und richtete seine Robbenaugen wieder auf Michaela. Und schon gingen wir drei nebeneinander in Richtung Post. Ich schob mich neben Michaela und winkelte meinen rechten Arm an, damit sie sich bei mir unterhakte. Sie aber tat nichts dergleichen und wandte kein Auge von der Robbe. Ich wußte nicht einmal, woher sie sich kannten.»Irre«, sagte die Robbe mehrmals,»irre!«
Ohne mich wären sie einander wohl noch öfter um den Hals gefallen. Michaela erzählte von Thea. Sah so der Regisseur aus, der Michaelas Träume erfüllen konnte?
Unerträglich war mir der Gedanke, daß er nun unauslöschlich mit diesem Tag verbunden sein würde. Wie eine Zecke würde er von nun an in unserer Erinnerung hängen. Genosse Robbe war dazu übergegangen, statt» irre«»schlimm «zu sagen. Jedem Satz von Michaela gab er mit» schlimm, schlimm «seinen Segen. Sie fühlte sich davon angespornt. Plötzlich zeigte er zu der Kamera hinauf und sagte:»Wenn das ein Maschinengewehr wäre!«Jemand hatte angefangen, der Kamera zuzuwinken, und nun winkten alle um mich herum hinauf. An der Fußgängerampel machten wir halt.
Sie kennen ja die dunklen Fernsehbilder. Haben Sie die Langsamkeit bemerkt, mit der die Leute einen Fuß vor den anderen setzten, und die großen Abstände zwischen ihnen? Ich kannte nur Maidemonstrationen, bei denen man sich ewig die Beine in den Bauch stand, ab und an ein paar Meter voranschlurfte, wartete und schließlich zum Laufschritt angetrieben wurde, damit vor der Tribüne keine Lücke im Demonstrationszug entstand. Hier aber schlenderte man zu zweit, zu dritt, in Grüppchen über den Platz, darauf bedacht, den anderen nicht zu nahe zu treten. Die Ampel wurde grün. Wir aber blieben stehen und warteten. Ein Mann fragte:»Beim nächsten Grün gehen wir los?«Und so betraten wir, als das grüne Männlein wieder aufleuchtete, endlich die Straße.
Wir wandten uns nach links, in Richtung Hauptbahnhof. Die Leute in den Autos, für sie war kein Durchkommen mehr, saßen wie festgefroren, angststarre Blicke. Von den Einsatzwagen, überhaupt von Polizei war nichts zu sehen. Nur ein einziger Polizist zeigte sich breitbeinig in einer Nebenstraße, als wollte er sich die Demonstration einmal persönlich anschauen. Nach zwei- oder dreihundert Metern drehten wir uns um. Sie erinnern sich vielleicht, die Straße fällt zum Hauptbahnhof hin leicht ab. Michaela jubelte und umarmte mich, die Robbe schrie:»Irre, irre!«Die ganze Stadt schien eine einzige Demonstration!
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