Sie seien in die Kneipe geflüchtet und hätten Thomas, Theas Mann, angerufen. Karin habe einen Heulkrampf bekommen und sich auf die Eckbank des Stammtisches legen müssen. Von draußen sei Geschrei zu hören gewesen, und immer wieder seien Leute hereingestürzt, manche mit Platzwunden oder blutenden Nasen. Alle hätten Angst gehabt, daß die Uniformierten auch in die Kneipe kommen könnten. Sie, Michaela, habe es sich schon fast gewünscht, weil das Gewarte das schlimmste gewesen sei.
Als sie gegen halb eins in Theas Wohnung zurückgekehrt seien, habe noch die ganze Geburtstagsgesellschaft dagesessen. Thomas habe sie, Michaela und Karin, zuerst angebrüllt, als trügen sie die Schuld an Theas Verschwinden. Mehr als zehn Gäste hätten in der Wohnung übernachtet, auf dem Fußboden, in Sesseln, an Schlafen sei sowieso nicht zu denken gewesen. Thomas habe die ganze Nacht herumtelephoniert. Er sei auch zur Polizeischule Rummelsburg gefahren, aber man habe ihn nicht hineingelassen. Tagsüber hätten sie gewartet und wären nur raus, um die Kinder auf den Spielplatz zu bringen.
Michaela hatte sich beim Sprechen etwas beruhigt, doch nur, um jetzt um so vehementer mit ihrer Selbstanklage zu beginnen. Thea habe nämlich im Moment ihrer Festnahme nach ihnen gerufen. Sie, Michaela, habe Thea sogar festhalten wollen, sei aber dann von dem Kordon der Uniformierten zurückgestoßen worden. Michaela brach erneut in Tränen aus. Einer der Polizisten, oder was für Uniformen das auch immer gewesen seien, habe sie gefragt, ob sie ebenfalls Lust habe, dorthin zu kommen.»Dorthin«, habe er gesagt, und es sei klar gewesen, daß»dorthin «etwas Schreckliches bedeute. Und nun frage sie sich, warum sie davor zurückgeschreckt sei, warum sie Thea nicht gefolgt sei, wie es sich gehört hätte.»Nein!«rief Michaela, alle unsere Tröstungsversuche abwehrend, es wäre ihre Pflicht gewesen, Thea zu begleiten und sich nicht abschrecken zu lassen von diesem» dorthin«. Sie könne Thomas verstehen, natürlich mache er ihr zu Recht Vorwürfe.»Ich habe es zugelassen! Ich habe sie allein gelassen!«
Robert saß völlig ratlos neben ihr. Dann stand Michaela auf und verkündete, jetzt zur Telephonzelle zu gehen, um Thomas anzurufen. Außerdem sei ihr nach frischer Luft zumute.
Robert und ich aßen allein. Beim Abwaschen erzählte er mir von seinem Klassenlehrer, Herrn Milde, der gesagt habe, wir würden niemandem eine Träne nachweinen, der unserer Republik den Rücken kehre (das war damals so eine Zeitungsparole), woraufhin Falk, sein Freund, geantwortet habe, er bedauere, daß Doreen, seine Banknachbarin, die vor ein paar Tagen mit ihren Eltern ausgereist war, nicht mehr da sei. Erst habe Herr Milde nicht reagiert, ihn dann aber ermahnt, sich zu melden, wenn er etwas sagen wolle. Da habe sich Falk gemeldet, sei aber nicht aufgerufen worden. Herr Milde hatte gesagt, einem wie ihm werde es doch leichtfallen, eine hübschere Freundin als Doreen zu finden. Robert fragte mich, ob er sich auch hätte melden sollen.
«Schlechte Nachrichten«, sagte Michaela. Mir kam es vor, als sei sie im Grunde stolz darauf. Karin sei bei Theas Kindern geblieben, Thomas habe einen Bericht über Theas Verhaftung verfaßt und in der Gethsemanekirche vorgelesen und ausgehängt. Karin habe als Zeugin unterschrieben und ihre Adresse angegeben. Karin habe Michaela versprochen, auch ihre, also unsere Adresse darauf zu schreiben.»Dort muß die Hölle los sein«, sagte Michaela.
Am nächsten Morgen waren wir kurz vor zehn im Theater. In der Dramaturgie, diesem niedrigen dunklen Raum unterm Dach, drängten sich die Leute.
Michaela griff sofort zum Telephonhörer, preßte ihn ans Ohr und hielt sich während des Gesprächs das andere Ohr zu.
Die meisten schien die pure Langeweile hierher verschlagen zu haben. Sie inspizierten unsere kleine Bibliothek, blätterten in alten Programmheften und sprachen über Aufführungen und Kollegen, als sei das ein Gebot der Stunde. Ging die Tür auf, stockten die Gespräche jeweils für einen Augenblick.
Amanda von der Requisite erschien und kurz darauf Olaf, der Inspizient. Norbert Maria Richter war noch nicht da. Amanda steckte sich eine Zigarette an und fragte, was wir denn planten.»Ich plane nichts«, sagte ich.
Die einen sprachen über eine Resolution des Dresdner Theaters, die auf der Bühne verlesen werden sollte, andere von Blutkonserven und freigeräumten Stationen. Das werde tatsächlich in Leipzig erzählt, bestätigte Patrick. Ellen habe ihn deshalb im Theater angerufen. Amanda zeigte uns einen Artikel aus der» Volkszeitung«.»Werktätige fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden!«lautete die Überschrift. Eine Kampfgruppeneinheit namens Geifert fühlt sich von gewissenlosen Elementen nach der Arbeit, beim Genuß ihres verdienten Feierabends, belästigt. Die Folgerung daraus: Sie sind bereit und willens, das von ihrer Hände Arbeit Geschaffene zu verteidigen und zu schützen, die Störungen endgültig und wirksam zu unterbinden.»Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand. «Ich las den Artikel laut vor und ließ die Zeitung herumgehen. Amanda hielt ihre Kippe unter den Wasserhahn und legte sie neben die Seife zu den anderen. Sie lächelte.
«Heute entscheidet sich alles«, hörte ich plötzlich Michaela.»Wenn wir heute versagen, dann haben wir für immer versagt. «Ihr Blick ging von einem zum anderen.»Wenn wir heute nicht selbst auf die Straße gehen, lassen wir alle, die inhaftiert und gefoltert wurden, im Stich. «Darauf folgte die Wiedergabe dessen, was Thea erzählt hatte.
Michaela nahm sich Zeit für ihre Rede, hob kaum die Stimme und ließ alle spüren, daß sie um Sachlichkeit rang und ihre Gefühle, schließlich handelte es sich um ihre beste Freundin, zu unterdrücken verstand. Sie ähnelte schon einer Nachrichtensprecherin, als sie ein Mädchen erwähnte, das sich habe ausziehen müssen und unter dem Gelächter der Polizisten nackt über den Gang gejagt worden war. Dieses Martyrium sei Thea erspart geblieben. Dafür spüre sie noch den Schlag auf den Kopf — minutenlang habe sie bewußtlos auf dem LKW gelegen; schlimmer noch seien die Rückenschmerzen, die ganze rechte Seite sei ein einziger Bluterguß. Sie seien bei jeder Gelegenheit geschlagen worden, sogar dann noch, als sie an der Wand standen, mit den Händen im Nacken. Immer wieder hätten junge Kerle Leibesvisitationen vorgenommen.
Nach 38 Stunden ohne Schlaf und Essen habe man sie entlassen. Gestern abend sei um die Gethsemanekirche die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet worden, dann hätten die Uniformierten losgeprügelt — unterm Sturmgeläut der Kirchenglocken.
«Wenn wir es heute nicht schaffen«, sagte Michaela, während sie am Kragen ihres Mantels zog,»haben wir unsere Chance für lange, vielleicht für immer vertan!«
Michaela hatte uns mit ihrer Rede in Verlegenheit gebracht. Deshalb löste die Nachricht, Norbert Maria Richter sei gekommen, einen etwas überstürzten Aufbruch aus.
Hätte es mich statt Thea getroffen, davon war ich überzeugt, wäre Michaela wohl kaum zu solch einer Rede inspiriert worden. Thea war ihr schon wieder einen Schritt voraus. Das fand Michaela unerträglich! Die große Freundin war daran schuld, daß Michaela glaubte, ihr Gesicht zu verlieren, wenn nicht auch sie Kopf und Kragen riskierte.
Liebe Nicoletta! Ich weiß, wie mißgünstig ich Ihnen erscheinen muß. Vielleicht habe ich immer noch zuwenig Distanz zu der ganzen Sache. Aber in diesem Falle teile ich Ihnen nicht nur meine damalige Meinung mit.
Gegen Michaelas Wahn war kein Kraut gewachsen. 297Ich wußte, sie würde nach Leipzig fahren. In Norbert Maria Richter oder Jonas mußte ich keine Hoffnungen setzen. Robert bliebe mein einziges Argument, aber Thea hatte schließlich auch keine Rücksicht auf ihre Familie genommen.
Mittags in der Kantine wußte jeder von leer geräumten Turnhallen und Notlazaretten zu berichten. Jonas, der lange geschwiegen hatte, sagte mit einem wissenden Lächeln, er rate jedem dringend davon ab, heute nach Leipzig zu fahren.
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