«Kannst du mir das erklären?«fragte ich Fred nach einer langen Pause.»Kannst du mir sagen, wie du abgerechnet hast?«
Er hätte immer alles Geld abgeliefert, nie etwas zurückbehalten, und Ilona hätte es ihm quittiert.
«Und dir sind«, fragte ich und ordnete die Blätter wieder der Reihenfolge nach,»nie Unstimmigkeiten aufgefallen?«
Fred zuckte mit den Schultern. Ich schwieg. Ob er gehen könne, fragte Fred.»Nein«, sagte ich,»wir warten auf Ilona.«
Dieser Satz blieb für einige Zeit der letzte, bis Fred von sich aus fragte, ob er Ilona holen dürfe.
«Ach du Schreck«, sagte sie, als ich die Listen vor ihr ausbreitete.
«Und du hast ihm das Geld abgenommen und quittiert?«
«Ich hab’s gerollt und zur Bank geschafft, heij«, sagte sie, als erwarte sie dafür Lob. Sie schien nicht einmal zu ahnen, was das mit ihr zu tun haben sollte.
«Und nichts nachgerechnet?«
Sie habe das Geld genommen und zur Bank geschafft, wiederholte sie.
Die beiden schnieften um die Wette, als ich sagte, daß sie alles stehen- und liegenlassen und die Listen nachrechnen sollten. Heute nachmittag brauchten wir die Zahlen.»Vielleicht«, sagte ich zum Schluß,»sind wir ja schon längst pleite.«
Als es kurz nach fünf losging, war die Stimmung unerträglich. Ilona und Fred saßen mir gegenüber und redeten über etwas, was sie ständig zum Lachen reizte. Anstatt nachzurechnen, hätten sie andere Aufträge erledigen müssen. Ich sei doch ihr Kontrolleur, eigentlich sei das meine Aufgabe.
Pringel saß für sich und starrte auf das leere Blatt vor ihm. Er wußte bereits, was ihn erwartete, nur ich hatte keine Ahnung. Kurt fehlte, die Akquisiteure waren nicht geladen. Allein Jörg schien von alter Herzlichkeit.
Er stellte als erstes Ilona und Fred zur Rede, warum sie meiner Anordnung nicht gefolgt seien, sich um die Abrechnung zu kümmern. Sie waren völlig verblüfft.
Frau Schorba gab die Werbeeinnahmen bekannt. Wir brauchten gar kein Anzeigenblatt mehr zu werden, sagte Jörg, wir seien bereits eins. Ab der letzten Juniwoche solle das» Wochenblatt «in Gera gedruckt werden, um vier oder acht Seiten verstärkt. Dann gebe es auch wieder Platz für Artikel, was unseren Verkaufszahlen wesentlich besser bekommen werde als diese Anzeigenschwemme, mit der wir uns selbst das Wasser abgrüben. Damit war Jörgs Ausblick in die Zukunft beendet. Er stellte seinen neuen Aufmacher vor, den ihm die» Kommission gegen Korruption und Amtsmißbrauch «frei Haus geliefert hatte (nun mußten sie schon den dritten Vorsitzenden wählen, weil die beiden ersten selbst der Korruption verdächtigt wurden).
Dann zog Jörg ein Papier hervor und sagte:»Wir müssen darüber reden, Gotthold, da mußt du jetzt durch. «Pringels Kindergesicht wurde noch kleiner. Jörg referierte den Inhalt eines Briefes, unterzeichnet von mehr als dreißig Leuten vom Anlagenbau. Darin wurde Pringel als» roter Schreiberknecht «bezeichnet.»Was hat ein roter Schreiberknecht in Eurer Zeitung zu suchen?«Beigelegt hatten sie einen Artikel aus Pringels Betriebszeitung vom Oktober 89.
Jörg begann daraus zu zitieren und brach nach Formulierungen wie» mit der geballten Härte des Gesetzes«,»Wohl und Gesundheit unserer Kinder sind bedroht «mit einem Undsoweiterundsofort ab.
Als Pringel aufsah, erkannte ich ihn kaum wieder. Seine Lippen bebten. Er versuchte zu lächeln, sein Blick huschte über uns hinweg.
Er verstehe eigentlich nicht, sagte Jörg, warum er so überrascht von diesem Brief sei. Vor allem aber wolle er ihn fragen, warum er uns gegenüber nicht mit offenen Karten gespielt habe. Das sei für ihn das eigentliche Delikt. Pringel nickte. Im Oktober habe wirklich niemand mehr solche Sachen schreiben müssen, murmelte Fred und verhinderte damit eine Antwort Pringels, der gerade Luft geholt hatte.
Es sei nach den Dresdner Ausschreitungen gewesen, stammelte Pringel schließlich. Aber der Text sei ihm vorgegeben worden, er habe gar keine andere Wahl gehabt, als das zu veröffentlichen, es sei gar nicht sein Artikel, er habe ihn aber zeichnen müssen, als verantwortlicher Redakteur habe er seinen Namen hergegeben. Sein Blick irrte herum.»Was hätte ich denn tun sollen?«
«Uns mal die Zeitung zeigen«, sagte Marion, worauf Pringel wieder stammelte, es sei doch gar nicht sein Artikel.
Ich fragte ihn, wovor er denn Angst gehabt habe? Ich meinte natürlich seine damalige Situation im Herbst. Er mißverstand mich.
«Daß Sie mich nicht mehr schreiben lassen«, sagte er. Nie zuvor habe ihm Zeitungmachen so viel Freude bereitet, ihn so erfüllt. Jeden Morgen sei er froh, daß er hierherkommen könne …
Was sollten wir ihn weiterquälen? Er war einverstanden damit, daß sein Name bis auf weiteres nicht in der Zeitung erscheint. Pringel ist ein freundlicher Mensch und intelligent. Ihm muß man nur sagen, was man braucht, und bekommt es am nächsten Tag. Seine kleinen Firmengeschichten sind beim» Gallus «der Renner. Möbel-Hausmann schaltet seither eine halbe Seite pro Woche.
Ob es Fragen gebe, wollte Jörg wissen.
Ja, sagte ich, über das Wichtigste hätten wir gar nicht gesprochen.
Das sei eine Redaktionssitzung, unterbrach er mich, das Grundsätzliche müßten wir zu zweit klären. Wann ich das endlich begreifen würde. Außerdem sei die Sache vom Tisch.
Für mich, sagte ich, ist die Sache noch nicht mal auf dem Tisch, und wenigstens meine Argumente sollten die anderen hören. Doch» die anderen «waren bereits aufgestanden. Selbst Frau Schorba griff schon nach ihrer Handtasche. Nur Pringel war sitzen geblieben. Uns beiden war offenbar die Entschlußkraft abhanden gekommen. Da spürte ich die Schnauze von Astrid, dem Wolf, auf meinem Knie. Mit seinem einen Auge sah er mich an. Du kannst mich auslachen, aber ich bin mir sicher, daß der Wolf die Situation genau verstand. Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als den Einsatz zu verdoppeln. Ich glaube an den Sieg.
Sei umarmt, Dein E.
PS: Vielleicht ist es besser, wenn Du Anton Larschen bei Georg herausbringst. Ich glaube, Georg würde sich freuen, und das Buch hätte dann einen richtigen Verlag.
Liebe Nicoletta!
Ich hatte mich nicht weiter darüber gewundert, daß meine Mutter an jenem 9. Oktober bei uns aufgetaucht war. Nachdem Robert im Bett war, sagte sie:»Ich muß euch was erzählen. «Und nach einer kurzen Pause:»Ich bin verhaftet worden!«
Der Bericht meiner Mutter war weit weniger ausführlich als der von Michael. Auch sie war am Freitag abend, also am 6., vor dem Dresdner Hauptbahnhof festgenommen worden. Sie habe sich mit eigenen Augen von dem überzeugen wollen, was sie in der Klinik und im Radio gehört hatte; doch kaum aus der Straßenbahn gestiegen, noch bevor sie sich zwischen Demonstranten und Uniformierten so recht habe orientieren können, sei sie gepackt und auf einen LKW geworfen worden. Man habe sich geschlagen und beschimpft. Nach ihrer Entlassung am Sonntag morgen sei sie zu Gunda Lapin, ihrer Freundin, der Malerin, nach Laubegast gefahren. Bei ihr habe sie sich bis Montag morgen erholt. In der Poliklinik habe sie sich dann untersuchen und für eine Woche krank schreiben lassen. Wäre sie noch inhaftiert, sagte sie, wüßte niemand, wo sie sei.
Ihr zuzuhören war eine Qual. Michaela kämpfte mit den Tränen und versuchte, Mutters Hände in ihre zu nehmen. Ich fand das unpassend, weil es Mutter hemmte, und war froh, als Michaela zur Telephonzelle ging, um Thea anzurufen. Doch das Alleinsein mit meiner Mutter ertrug ich noch weniger. Ich schaltete den Fernseher an. Aber weder sie noch ich sahen hin. Wortlos räumten wir den Tisch ab und brachen unser Schweigen auch beim Beziehen ihres Bettes nicht. Mutter ging ins Bad, und ich hörte sie gurgeln und das Wasser ins Becken spucken. Ich saß vor dem ausgeschalteten Fernseher und betrachtete meine Silhouette auf dem Bildschirm. Ich atmete immer tiefer ein, bis das Heben und Senken der Schultern auch bei meinem Spiegelbild deutlich zu sehen war.
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