Am Mittwoch jedoch kam Michaelas großer Tag. Mutter, Robert und ich setzten uns in die Vorstellung,»Emilia Galotti«. Michaela war nicht bei der Sache. Als Emilia zu ihrem Bericht ansetzte, wußte sie nicht weiter.
Nach der Pause verzog ich mich in die Dramaturgie. Die Intendanz war hell erleuchtet. Der technische Direktor, die Verwaltungschefin, die zugleich Parteisekretärin war (und nun In tendantin ist), saßen mit drei oder vier anderen zusammen, deren Stimmen ich nicht erkannte.
Ich hörte auch immer wieder Schritte und das Klappen der Eingangstür. Trotzdem war ich dann überrascht, wie viele gekommen waren. Jambo, der auf der untersten Stufe der kleinen Treppe stand, die zur Bühne führte, spielte gedankenverloren mit der Kordel seiner Brille. Eine Frauenstimme flüsterte:»Der Intendant!«
Ich hatte ihn nicht bemerkt. Er saß am Tisch, den Kopf auf den verschränkten Armen, als würde er schlafen, seine Schultern zuckten. Ich dachte zuerst an ein Unglück, einen Todesfall.
Nach dem Knacken des Lautsprechers bat Olaf, der Inspizient, den Darsteller des Odoardo auf die Bühne. Er ließ den Lautsprecher eingeschaltet, so daß wir von da an die Vorstellung mitverfolgen konnten.»Noch niemand hier? Gut, ich soll noch kälter werden«, schnarrte es aus dem Lautsprecher.
«Habt ihr denn nicht Radio gehört?«fragte Jonas mitten in den Satz hinein.»Wer kein Gesetz achtet, ist doch genauso mächtig wie der, der keins hat!« 305
Jonas’ Augen, von Tränen schlierig, sahen in die Runde, ein Blick, der sich auf der Suche nach Barmherzigkeit von einem zum anderen schleppte.»Habt ihr denn nicht Radio gehört? Kriegt ihr denn nichts mehr mit? Könnt ihr nur noch in eine Richtung denken?«Er schüttelte den Kopf.»Sie wissen es nicht«, rief er,»sie wissen nichts von der wichtigsten Veränderung seit Jahrzehnten! Hat denn keiner gehört, was das Politbüro heute abend erklärt hat?«
«Huch!«rief Jambo.»Ist die Mauer weg?«
Jonas brüllte; seine Stimme explodierte in dem kahlen Raum. Michaela behauptete später, selbst durch die Stahltür habe man ihn gehört. Sein Kopf wurde derart rot, daß ich ihn bereits mit starren Augen und offenem Mund auf den Tisch fallen sah.
Die Bügel von Oliver Jambos Brille hatten sich in der Kordel verwickelt, so daß er eine Bewegung machte, als schüttelte er ein Fieberthermometer.»Könnten Sie das noch mal wiederholen?«fragte er leise.
Statt sich wie erwartet auf Jambo zu stürzen, begann Jonas zu predigen. Seine ganze Erklärung war so läppisch, daß ich mich an nichts erinnere, außer an zwei Formulierungen, die Jonas mehrmals wiederholte:»Es wird keine chinesische Lösung geben «und» Das Politbüro steht mit dem Gesicht zum Volk«.
Aus dem Lautsprecher kam der Schlußapplaus. Jonas redete weiter. Er setzte gerade wieder zu seinem» mit dem Gesicht zum Volk «an, als Michaela etwas atemlos aus dem Lautsprecher zu vernehmen war:»Los, es geht los!«»Meine Damen!«sagte Jambo und hielt die Stahltür auf. Ich folgte als letzter. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich Jonas mit halb erhobenem Arm dastehen, ins Leere weisend. 306
Michaela trat vor und begann. Ein Paar stand eilig auf und stürzte hinaus. Im halben Saallicht sah ich Mutter und Robert, die beide kerzengerade dasaßen und lauschten, als wäre die Galotti wiederauferstanden, um Rache an Marinelli zu nehmen. Auch der Tonfall, in dem sie sagte» Wir treten aus unseren Rollen heraus«, war derselbe wie der, mit dem sie gesagt hatte:»Aber alle solche Taten sind von ehedem!«
Mir war es unangenehm, einfach nur dazustehen, reduziert auf meine körperliche Präsenz. 307
Das Publikum applaudierte, die meisten erhoben sich, auch Mutter und Robert. An Michaela sah ich den Reflex, sich bei Applaus zu verbeugen. Sie bekam ihn gerade noch unter Kontrolle, breitete aber die Arme aus, als wollte sie sagen, wir alle hier denken so, und trat zurück. Die Leute klatschten weiter und schienen auf etwas zu warten, ein Lied oder ein Nachspiel. Ein paar folgten Michaelas Beispiel und spendeten mit ausgestreckten Armen den Zuschauern Beifall. Statt eines geordneten Abgangs begannen wir einzeln von der Bühne zu bröckeln. Die letzten, unter ihnen die Galotti, flohen dann regelrecht. Das Publikum, 124 verkaufte Karten, klatschte, wie um eine Zugabe zu erzwingen.
Als wir am nächsten Tag ins Theater kamen, wartete bereits ein Emissär der Umweltbibliothek an der Pforte.»Die ganze Stadt spricht von eurer Aktion«, sagte er, nickte ernst und lud uns für den Abend in die Martin-Luther-Kirche ein, um über unseren Aufruf zu informieren. Da ich von keiner Umweltbibliothek in Altenburg wußte, glaubte ich zuerst, er sei aus Berlin gekommen.
Die Einladung an uns galt einer» Fürbittandacht«.
Über Mittag residierte Michaela in der Kantine und empfing die Huldigungen selbst von Orchester und Chor. So war es ihr noch nach keiner Premiere ergangen. Michaela bestimmte, wer abends die Resolution im Theater vorlesen solle, weil sie selbst beabsichtigte, in der Kirche aufzutreten.
Die Martin-Luther-Kirche, jener neogotische Zeigefinger an der Stirnseite des Marktes, war überfüllt. Ich folgte Michaela durch den Mittelgang nach vorn, wo uns der Emissär empfing. Wie lange hatte ich keine Kirche mehr betreten!
«Schrecklich, ganz schrecklich«, sagte immer wieder eine Frau mit kurzen Haaren und einer langen schmalen Narbe, die ihre rechte Augenbraue kreuzte.»Ganz, ganz schrecklich!«Sie meinte Bodin, den Pfarrer der Kirche, der sie aufgefordert hatte, statt weiter große Reden zu schwingen, lieber einen Dankgottesdienst zu veranstalten. Gedankt werden sollte Gott für die um Verständnis bemühte Erklärung des Politbüros. Im übrigen gebe es starke Kräfte in seiner Gemeinde, die überhaupt kein Verständnis für diese Veranstaltung hätten. Wenn sie und ihre Freundinnen das nicht begriffen, sehe er keine andere Möglichkeit, als jenen Gemeindemitgliedern nachzugeben und seine Kirche für diese Krawallveranstaltung zu schließen.
Irgendwie verstand ich den Pfarrer Bodin, diesen älteren, vollkommen kahlköpfigen Mann, der sich im Talar auf einen Stuhl an der Wand gesetzt hatte und in Gedanken oder in ein Gebet vertieft war.
Michaela und ich wurden mehrfach begrüßt. Der Gründer des» Neuen Forums Altenburg«(jede Stadt hatte ihr eigenes Neues Forum) schnappte nach Luft, als er uns erzählte, daß heute früh die Radmuttern an seinem Trabi locker gewesen seien. Ein dürrer Langhaariger mit einem Chinesenlächeln trug ein zusammengerolltes Transparent wie eine große Puppe im Arm. Immer wieder stellten sich junge Frauen als Mitglieder oder Sprecherinnen von Umwelt- und Friedensgruppen vor.
Auch bei denen, die sich in den Gängen und auf den Emporen drängten, waren mehr Frauen als Männer.»Heute muß was passieren!«sagte die Frau mit der Narbe und hockte sich vor uns hin.
«Was soll denn passieren?«fragte ich.
«Na, Demonstration!«rief sie.»Es muß doch hier mal losgehen! Einer muß heute mal den Mund aufmachen!«
Der Langhaarige kam dazu und mischte sich ein:»Es ist besser, wenn jemand redet, den sie hier noch nicht so kennen. «Merkwürdigerweise leuchtete mir das damals ein. Ich spürte zu spät, wie prekär die Situation durch mein Nicken für mich geworden war. Der vom Neuen Forum kam wieder mit seiner Radgeschichte und daß er seiner Familie sowieso schon viel zuviel zumute. Michaela rührte sich nicht.»Kannst du das nicht machen?«fragte die Frau mit der Narbe und sah mich an. Ich saß in der Falle.
«Und was soll ich sagen?«fragte ich.»Klasse«, rief sie,»das ist echt klasse!«Der mit den langen Haaren beugte sich über mich und berührte meine Schulter.»Gut, Enrico, sehr gut!«Ich war so verunsichert, daß ich ihn fragte, woher er denn meinen Namen kenne 308. In diesem Moment begann die Kirchenband zu spielen. Der Bassist, der den Einsatz gegeben hatte, nickte wie einer dieser Plastedackel, die eine Zeitlang hinter jeder Heckscheibe zu sehen gewesen waren.
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