Plötzlich stand meine Mutter in Unterwäsche vor mir und bat mich, sie einzureiben. Ihr Rücken war voller Blutergüsse, sogar auf Schenkel und Waden hatte man sie geschlagen. Sie stützte sich auf den Tisch und krümmte ihren Rücken. Sie roch ein bißchen nach Schweiß. Die wenigsten Ärzte dächten, wenn sie solches Zeug verschrieben, daran, daß alte Menschen meist allein seien und sich gar nicht einreiben könnten, sagte sie. Wir gaben uns einen Gutenachtkuß. Meine Mutter hatte im Bad weder das Licht ausgemacht noch die Zahnpastatube zugeschraubt. Ihr Handtuch lag auf dem Klodeckel.
Michaela fragte, wonach es rieche, und sagte dann, Thomas habe Thea auch gerade mit Franzbranntwein eingerieben. Das klang irgendwie gemütlich, als sei nun alles überstanden.
Am Dienstag war das Verlesen der Dresdner Resolution von der Bühne herab nicht mehr zu verhindern. Bis auf Beate Sebastian, die nur mit Zustimmung der Partei an einer solchen Aktion teilnehmen wollte, war das ganze Schauspiel dafür.
Was die Resolution betraf, teilte ich die Begeisterung der anderen nicht. Als ich vorschlug, eine eigene Resolution zu schreiben, hieß es, das Orchester, die meisten Sänger und das Ballett hätten schon ihr Einverständnis erklärt, sie könnten jetzt nicht wieder von vorn beginnen.
Der ganze Tonfall war dem Ritual von Kritik und Selbstkritik entlehnt. Hinter jeder Zeile schaue ein besorgter Funktionär hervor, sagte ich. Michaela schüttelte den Kopf, ich täuschte mich. Wir gingen es Zeile für Zeile durch, und ich war selbst überrascht, wie leicht diese pseudorevolutionäre Rhetorik auszuhebeln war. Allein schon der Satz:»Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.«
«Hörst du darin nicht das Winseln des enttäuschten Speichelleckers?«fragte ich.»Wer sagt denn, daß ich mit denen dort überhaupt noch reden will? Wieso denn Staatsführung , wenn sie durch Wahlbetrug an die Macht gekommen sind? Und was bedeutet: mit ihrem Volk? Warum zitieren sie nicht Brecht: Sollen sie doch ihr Volk auflösen und sich ein neues wählen …«
Michaela gab zu, daß man diese Zeile streichen könne, meinte aber, die Formulierung» Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden «sei nicht nur mutig, sondern auch jetzt noch richtig. Warum, fragte ich, schreiben sie nicht: Ein Volk, das seit 28 Jahren eingesperrt und als Staatseigentum behandelt wird, das beim leisesten Widerspruch bestraft und eingeschüchtert wurde, erobert endlich die Straße! Weg mit der Verbrecherbande, die auf wehrlose Menschen einschlägt, sie verhöhnt und foltert?
Michaela schwieg.»Warum«, fragte ich,»sagen sie nicht einfach: Die Mauer muß weg, weg mit der SED, her mit den Menschenrechten, geht auf die Straßen, habt Mut, laßt euch nicht mehr einschüchtern!«
«Das geht zu weit«, sagte Michaela,»das stellt ja alles in Frage.«
«Natürlich«, rief ich,»stellt das alles in Frage! Leipzig stellt alles in Frage, was mit meiner Mutter, was mit Thea passiert ist, stellt alles in Frage. Wir müssen alles in Frage stellen!«Warum sie sich mit dem alten Käse aus der Feder von Apparatschiks zufriedengebe.»›Wir haben die Pflicht‹«, zitierte ich höhnisch,»›von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen zur Bevölkerung wiederherzustellen.‹ Ist das nicht widerwärtig? So ein Schlußsatz? Heißt das, bitte schlagt uns nicht, wir sind doch für den Sozialismus!? Das ist doch noch armseliger als der Wunsch nach Fürstenerziehung! Du kennst doch die Dresdner!«
«Und warum«, fragte Michaela,»sagst du es nicht?«
«Ich werde es sagen«, erwiderte ich.»Darauf kannst du dich verlassen!«
Ich muß ergänzen, daß wir nicht alleine waren. Wir standen vor dem kleinen runden Tisch in der Dramaturgie und hatten in denen, die dort saßen oder an den Schreibtischen lehnten, ein Publikum. Seit ihrem gestrigen Auftritt und unserer Rückkehr aus Leipzig war Michaela die Bärbel Bohley des Theaters und ich ihr Mann, dessen Mutter von Polizisten geschlagen, ja gefoltert worden war. Nach und nach waren die anderen verstummt. Die letzten Sätze hatten wir wie auf einer Bühne gesprochen.
Michaela machte einen mit Aufmerksamkeit verfolgten Gang zu ihrer Handtasche auf meinem Schreibtisch.»Es ist eben ein Unterschied«, sagte sie, zur Ausgangsposition zurückkehrend,»ob man im Theater etwas sagt oder auf der Straße. Im Theater ist man nicht anonym …«
«Das heißt nichts anderes«, unterbrach ich sie,»als daß die Straße das Theater aufklären muß! Keiner von denen, die verhaftet worden sind, war anonym, weiß Gott nicht. Die haben alle ihren Personalausweis vorlegen müssen!«
Für sie wäre es ein Erfolg, wenn es im Theater überhaupt so weit käme, daß die Resolution verlesen würde. Damit verließ Michaela die Dramaturgie. Von meinem Platz am Fenster aus sah ich sie zur Haltestelle gehen. Wieder war eine» Krähwinkel«-Probe ausgefallen.
Die Schlüssigkeit meiner Argumente versetzte mich in Euphorie. Ich hatte meinem Widerwillen nachgegeben, ich war ihm gefolgt wie einer Wünschelrute und hatte dabei eine Logik entdeckt, die funktionierte. Verstehen Sie mich? Plötzlich konnte ich begründen, warum ich nicht mitmachen wollte.
Mit meiner Sichtweise glaubte ich eine Verteidigungslinie bezogen zu haben, die so schnell keiner überrennen würde und die es mir erlaubte, dem Theaterkleinklein mit einem abschätzigen Lächeln zu folgen. Natürlich gab man mir recht, schlug sich aber auf Michaelas Seite und sprach von Etappen, List und Geduld.
Punkt 14 Uhr fuhr ich nach Hause. Mutter hatte gekocht. Sie hatte Robert in das, was ihr widerfahren war, eingeweiht. Er genoß die» Großfamilie «und das Sonntagsessen. Je länger sie darüber nachdenke, sagte Mutter, desto klarer werde ihr, daß sie alle hinter Gitter gehörten, nicht nur die Prügelknaben und ihre Offiziere, sondern alle, Modrow, Berghofer, Honecker, Mielke, Hager und das ganze Gesocks.»Und wenn sie nichts davon gewußt haben, um so schlimmer!«Michaela sah nicht auf. Wäre ich nicht später gekommen, hätte sie glauben können, Mutter wäre von mir instruiert worden. Zum Kaffeetrinken fuhren wir nach Kohren-Sahlis. Es gab Mohnkuchen mit Schlagsahne. Mutter bestellte eine doppelte Portion und sagte, das habe sie sich verdient. Danach brachte ich Michaela ins Theater.»Die Csárdásfürstin «hatte als Rentnervorstellung bereits um 15 Uhr begonnen.
Während die Vorstellung lief, war hinter der Bühne der Kampf um die Resolution erneut entbrannt.
Orchester und Ballett hatten zugestimmt, auch die Solisten mit Ausnahme von einem, der Chor aber hatte sich zerstritten. Die Csárdásfürstin war nicht zu überreden gewesen, die Erklärung zu verlesen. Kleindienst, der Dirigent, weigerte sich ebenfalls. Schließlich meldete sich Oliver Jambo, der schwule Heldentenor (ich erwähne das, weil Jambo den schwulen Heldentenor auf Schritt und Tritt zelebriert). Für ihn sei es eine Ehre, das Schreiben zu verlesen. Danach fuhr ich nach Hause.
Abends erzählte Michaela, daß alles an Jonas gescheitert sei. Jonas habe in der Raucherecke gesessen und gelächelt. Wer immer sich in seine Nähe verlaufen habe, den habe er gebeten, mit» dieser Aktion «zu warten. Er habe nur um einen Tag gebeten. Einen Tag sollten sie noch warten. Auch sie, Michaela, habe er angesprochen. Selbst ihr sei es schwergefallen, sich gegen ihn zu behaupten. Ein Tag, habe er wieder und wieder gesagt, nur einen Tag. Gefragt, was das denn ändere, habe er von der Tagung des Politbüros gesprochen.
An dieser Stelle von Michaelas Erzählung mußte ich lachen. Ja, sagte sie, sie schäme sich dafür, aber schließlich habe sie nichts machen können. Die Sänger seien plötzlich auch dafür gewesen, es um einen Tag zu verschieben. Das Orchester, das nicht informiert worden sei, habe in der Kulisse gewartet. Schließlich waren sie von Kleindienst auf die Bühne gebeten worden, um, wie er gesagt habe, ihren verdienten Applaus in Empfang zu nehmen. Die Musiker seien so wütend abgezogen, daß man wohl mit ihnen nicht mehr rechnen könne.
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