»Und sie sind TOT ! Und sie werden nie, nie wieder zurückkommen! Auch nicht, wenn ich groß bin.«
Ich wollte jeden einzelnen der maskierten Kunststoffkörper retten, Batman, den Kreuzritter, und Robin, den Wunderknaben. Ich goss das Wasser aus, wies Zach darauf hin, dass sie ja sowieso übermenschliche Fähigkeiten hatten und ihrem frühzeitigem Tod trotzen konnten. Zach hatte jeden Tag stundenlang mit ihnen gespielt, und ich wünschte mir sehr, dass er das weiterhin tat. Doch er bestand darauf, sie zu begraben, wollte eine Beerdigung für sie haben. Und ich habe nicht weiter versucht, seine Meinung zu ändern, weil ich ja auch alles andere nicht ändern konnte.
Ich hielt meinen schluchzenden Jungen im Arm und half ihm dann, die Plastikleichen hinter dem Hühnerstall zu begraben. Zach fragte nie wieder, wann sein Daddy zurückkommen würde.
Nach und nach begann er den Unterschied zwischen Joes Tod und Paiges Abreise zu verstehen, und dass das Leben aus unzähligen Abschieden besteht.
Mitte September kam Annie in die Schule, Zach in den Kindergarten, und wir waren so weit, den Laden wieder zu eröffnen.
Das alte CAPOZZI’S MARKET-Schild blieb hängen, aber darunter kam das neue mit DAS LEBEN IST EIN PICKNICK. Der Indian Summer würde immer noch reichlich Picknickwetter bieten, dann folgten die angenehmen Herbsttage, bevor schließlich das Regenwetter begann. Doch selbst im Winter würde es zwischen den Stürmen auch viel Sonnenschein für Picknickliebhaber geben. Und während der Regenstürme würde der angebaute Wintergarten einen Zufluchtsort bieten. Außerdem stellten wir runde Tische mit Stühlen auf die überdachte vordere Veranda und in den Laden nahe dem Holzofen.
Es gab weniger Regalgänge, dafür eine Verkaufstheke, die sich über die ganze Wand erstreckte. Wir hatten sie mit vielen Salatvariationen bestückt, von Hühnchen-Curry-Salat bis Auberginen-Nudelsalat, und natürlich gab es auch den berühmten Elbow-Makkaronisalat mit Salami, »berühmt« wegen der ellbogenförmigen Makkaroni. Außerdem boten wir alle erdenklichen Sandwich-Varianten an, einschließlich unserer Spezialität, dem »Stuffed Special« – ausgehöhltes Baguette mit Schichten aus Fleisch, Käse, Gemüse und Pasta. Alles war selbst zubereitet, mit frischen Zutaten, wenn möglich aus der Region, Fleisch von Rindern aus Weidehaltung und Freilandhühnern, ohne Zusatz von Hormonen, und vielen Bioerzeugnissen. Als Biologin war ich gegen den Einsatz von Pestiziden beim Gemüseanbau, denn ich wollte sichergehen, dass wir unsere Kunden verköstigten und nicht langsam vergifteten. Ja, es war kostspieliger, qualitativ hochwertige Zutaten zu verwenden, und ja, es schlug sich in unseren Preisen nieder, aber mein Bauch – der meines Wissens ziemlich gesund war – sagte mir, dass DAS LEBEN IST EIN PICKNICK ein Erfolg werden würde.
In der Mitte des Ladens waren Picknickkörbe verschiedener Größe und Form aus Peru und Guatemala ausgestellt. An der Seite hingen Woll- und Tischdecken an Haken, und Retro-Brettspiele – Sorry!, Scrabble, Schach und andere – lagen zum Spielen bereit, neue konnten erstanden werden. Zwischen Essbereich und Verkaufstheke gab es vier Regalgänge – etwa halb so lang wie früher –, gefüllt mit Wein, Crackern und besonderen Delikatessen. An einer Wand standen Kühlvitrinen mit Bier, alkoholfreien Getränken, Fruchtsäften und zwölf verschiedenen Sorten Wasser, und in der altmodischen, frisch reparierten Colatruhe, die ich in Marcellas und Joe seniors Scheune entdeckt hatte, lagen Colaflaschen auf Eis. Joe hatte immer vorgehabt, sie instand setzen zu lassen und im Laden zu benutzen, war aber nie dazu gekommen. Dank meiner neuen Einstellung, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben, war ich zur Tat geschritten und hatte mich an eine Werkstatt in Santa Rosa namens »Retro Refresh« gewandt.
Die Wände waren in einem blassen Goldrutengelb gestrichen – erst beim dritten Versuch hatten wir den richtigen Ton getroffen. Als ich dann einen Tag vor der Eröffnung mitten im Laden stand und der sonnenüberflutete Putz eine warme, heitere Atmosphäre verbreitete, musste ich tatsächlich lächeln. Ich merkte richtig, wie meine Mundwinkel nach oben gingen – eine lächelnde Närrin, im Begriff, einen Laden namens DAS LEBEN IST EIN PICKNICK zu eröffnen, nur wenige Monate nach dem Tod ihres Ehemannes. Das Leben ist ein Trip wäre wohl der angemessenere Name gewesen.
Wir hatten Pressemitteilungen an alle Zeitungen, Magazine und Radiosender geschickt, und sogar an die TV-Stationen in ganz Kalifornien – laut David nur für den Fall, dass es der ereignisloseste Tag in der Geschichte des Fernsehens würde und jemand eine Story über uns bringen wollte.
Das Einzige, was noch fehlte, war die Karte mit den Picknickplätzen. Clem Silver, ein landesweit anerkannter Illustrator und Maler, hatte gesagt, er würde fertig werden, doch wir öffneten in weniger als vierundzwanzig Stunden und hatten noch nichts von ihm gehört. Das Problem wurde noch dadurch größer, dass Clem nie ans Telefon ging. Als ich ihn einmal darauf ansprach, sagte er: »Welcher Einsiedler geht schon ans Telefon?« Da war was dran. Jeder wusste, dass Clem zurückgezogen oben im Wald lebte, im dunklen Schatten der Redwoodbäume. Er hatte die langen, weißen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, seine langen Fingernägel waren voller Farbe, und er rauchte extra lange Damenzigaretten – Virginia Slims mit Menthol. Und offenbar brauchte er auch lange Zeit, um seine Arbeit fertigzukriegen.
Die Türglocke ertönte, und David und Gil kamen mit Kisten und Tüten herein, gefolgt von Annie und Zach, die Metalleimer mit Anmachholz hinter sich herzogen. Als Nächstes erschienen Marcella mit einem Arm voll Hortensien und schließlich Lucy mit noch mehr Wein.
»Ich muss unbedingt Clem Silver ausfindig machen«, sagte ich zu Lucy. »Ich weiß aber nur ungefähr, wo er wohnt, irgendwo oben in den Shadies.«
»Du musst einfach die Spiral Road ganz hoch gehen, vorbei an dem Schild VORSICHT BISSIGER KÜNSTLER, und wenn du glaubst, am letzten Haus angelangt zu sein, dann noch etwa vierhundert Meter weiter.« Sie zeigte zur Tür. »Hier sieht schon alles super aus. Ich kümmere mich um die Kinder und den Rest, und du gehst hin.«
»Sicher? Ihr steckt mitten in der Weinlese.«
»Crush macht eine Weile ohne mich weiter. Ich muss mal was anderes sehen als Jeans und Stiefel und lila Traubenflecken. Geh schon, El, und lass dir Zeit. Du kannst ruhig mal eine Pause einlegen, bitte.«
Lucy zog ihre cremefarbene Samtmütze zurecht, wirbelte in ihrem langen Paisleyrock herum und rief Annie und Zach zu sich, damit sie ihr mit den Tischdecken halfen.
Ich stahl mich davon, froh, einen Spaziergang machen zu können. Ich ging die Straße entlang, vorbei an der briefmarkengroßen Poststelle, den beiden Restaurants und dem Elbow Inn, dem die Häuser der Nardinis, Longobardis und McCants folgten, und überquerte schließlich die verkehrsreichere Straße, die die Stadt Elbow vom Wald trennte.
Ich marschierte die steile, einspurige Spiral Road entlang, die sich tatsächlich spiralförmig den Hügel hinaufschlängelte. Die Stadtgründer hatten die Straßennamen manchmal wörtlich genommen. Doch es waren die Southern Pomo Indians gewesen, die dem Ort den Namen Shady Place gegeben hatten und ihre Zelte immer nur vorübergehend in den schattigen, dunklen Redwoods aufschlugen; sie zogen es vor, auf den sonnigen, mit Eichen bewachsenen Hügeln zu wohnen. Die Kashaya Pomo bezeichneten sich sogar als »Die Menschen vom Dach des Landes«, als ob sie prahlen wollten: »Wir leben in der schönen, sonnigen Gegend.«
Dann kamen die Weißen und begannen mit dem Abholzen. Nach dem Bau der Eisenbahnlinie reisten die Städter aus San Francisco mit dem Zug an, um hier zu fischen und sich entlang des Flusses zu vergnügen. Einige bauten Sommerhäuser im Wald, aber nur wenige lebten das ganze Jahr über hier, und so war das auch heute noch. Viele der Leute mit Häusern »In the Shadies« flohen in den Wintermonaten an Orte wie Palm Springs.
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