Einmal meinte Frank, er freue sich schon darauf, seinen Morgenkaffee am Kamin zu trinken, und ich konnte in seinen Augen sehen, wie sehr er Joe vermisste. Ich hatte ihn seit Joes Tod viel zu selten gesehen. Er war ein paarmal vorbeigekommen, aber wir waren dann immer verlegen und traurig gewesen, denn wir beide vermissten den gleichen Menschen, und keiner konnte ihn für den anderen ersetzen. Einmal war sogar Lizzie gekommen, mit einer großen Kühltasche voller Getränke und Snacks. Sie hatte mir zugenickt, aber mit David geredet, nicht mit mir. Dann war sie wieder gegangen, hatte zum Abschied gewunken und viele der Anwesenden umarmt. Ich fragte mich, ob sie mit Paige in Kontakt war, ob die beiden sich über meine Welche Absicht verfolgst du -Frage lustig machten.
Aber seit unserem Gespräch hatte Paige nur noch selten angerufen, um mit Annie zu sprechen, und es kam mir so vor, als zöge sie sich wieder mehr zurück. Oder zumindest redete ich mir das ein.
Zunächst lag die Tatsache, dass wir Joes Laden vollkommen auseinandernahmen, schwer wie Morgennebel auf uns, und wir gingen zögerlich und schweigend zu Werke. Ich dachte: Warum haben wir das nicht schon vor langer Zeit gemacht, Joe und ich zusammen? Warum musste er sterben, bevor wir das Problem angingen? Aber meine Stimmung hob sich mit dem Gefühl, dass Joe uns anfeuerte. Ich sah, wie es für ihn gewesen sein musste, als ihm das Ganze über den Kopf zu wachsen begann und immer mehr nach Scheitern aussah, und dass er jetzt, wo immer er war, vielleicht Erleichterung verspürte. Oder sogar Stolz.
Ich hing gerade die Familienfotos ab, als Joe senior kam. »Wo hängst du die hin?«, fragte er.
»Ich bin noch nicht sicher, aber ganz bestimmt an eine Stelle, wo man sie gut sehen kann. Hast du eine Idee?«
Er nahm mir ein altes Schwarzweißfoto aus der Hand, auf dem Großmutter Rosemary mit zwei Jungen vor dem Laden stand. Jemand hatte mit schwarzer Tinte Capozzi’s Market, 1942 in die Ecke geschrieben.
»Welcher bist du?«, fragte ich.
Er zeigte auf den Jüngeren von beiden, einen Knaben von etwa sieben oder acht Jahren, mit einer Schiebermütze auf dem Kopf und einem Schmutzfleck an der Wange. Der andere Junge schien im Teenageralter. »Ich wusste gar nicht, dass du einen älteren Bruder hattest.«
Er nickte. »Er starb im Krieg, im Kampf für sein Land.«
»Das tut mir leid. Das muss schlimm gewesen sein.« Er nickte wieder, den Blick noch immer auf das Foto geheftet. »Und wo ist Großvater Sergio? Macht er das Foto?«, fragte ich gespielt naiv.
Joe senior schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat seinen Sohn im Kampf gegen Italien verloren, doch er war noch kein amerikanischer Staatsbürger und …«
Ich zeigte ihm ein anderes Foto, ebenfalls datiert 1942. »Da ist er auch nicht drauf.«
»Nein, meine Liebe, mein Vater war nicht da, als die Fotos gemacht wurden … Wie ich schon sagte, er musste eine Zeitlang weg.« Die Aufnahmen stammten aus der Zeit, als sein Vater im Internierungslager war, was ich wusste, aber nicht sagte. Wortlos gab Joe senior mir die Fotos zurück, drehte sich um und ging hinaus. Ich verstand. Ich war in einer Familie groß geworden, in der bestimmte Themen tabu waren, und darin geübt, keine Fragen zu stellen.
Ich sah die gerahmten Fotos durch, bis ich eines aus einer späteren Zeit fand, das – ebenfalls auf der Veranda aufgenommen – Sergio, Joe senior und Joe als Kleinkind zeigte. Joe hatte die Arme in die Luft gestreckt wie ein Footballschiedsrichter, der gleich einen Touchdown verkündete. Beide Männer blickten lächelnd auf ihn hinab.
Morgens beim Aufstehen nahm ich mir vor, nicht nur das Notwendige zu tun, sondern auch das Schöne. So kam ich meinen Pflichten im Laden nach, verbrachte aber auch Zeit mit Annie und Zach. Manchmal konnte ich beides miteinander verbinden, was sich ein bisschen wie ein Geschenk anfühlte – wenn sie zum Beispiel beim Auffüllen der Regale halfen oder wir gemeinsam entschieden, welche Picknick-Plätze auf der Karte des Ladens eingezeichnet werden sollten. Clem Silver hatte tatsächlich eingewilligt, sie zu entwerfen, und war sogar zu einer Besprechung in den Laden gekommen.
Wenn die Kinder im Laden waren, überlegte ich mir ständig neue Bastelprojekte und setzte mich zu ihnen, wann immer ich eine Pause zwischen Schmirgeln, Streichen und Hämmern einlegen konnte. Es verschaffte mir eine seltsame Befriedigung, zuerst Chaos anzurichten und es dann zu beseitigen. Grundsätzlich versuchte ich, nur an das zu denken, was ich gerade tat, ob ich nun Shrimps in den Mango-Curry-Salat mischte oder mir ein Muster für eine Perlenkette überlegte. Wobei ich mich dann genau an meine eigenen Vorgaben hielt: zwei blaue Holzperlen, gefolgt von drei grünen Glasperlen, gefolgt von einer silbernen. Keine Überraschungen. Vorhersehbar wie das Verstreichen der Minuten. Bis ich einmal zu fest an der Schnur zog und sie riss. Die Perlen rollten bis unter die Gefriertheke, so dass ich nur noch genug für ein Armband hatte. Was mich daran erinnerte, dass Zeit – ganz besonders Zeit – alles andere als vorhersehbar war.
Wir arbeiteten auch zusammen im Garten, ernteten mehr Gemüse, als wir je verbrauchen würden, und brachten Tüten voller Artischocken, Tomaten, Basilikum und noch vieles mehr zu Marcella und David, die sie für die Gerichte im Laden verwendeten.
Ich machte nicht nur Eislollis aus Fruchtsaft für Annie und Zach, so wie meine Mutter früher in ihrer alten Eislolliform von Tupperware, ich fror auch Pappbecher mit Hundekeks und Hühnerbrühe für Callie ein. Ich hatte alles im Griff, und zwar so gut wie nie zuvor. Und ganz bestimmt besser, als es Paige jemals hatte und haben würde, versicherte ich mir. Ich war das Muster einer perfekten Witwe/Mutter/Geschäftsretterin/Hundefreundin.
Aber dann passierte etwas, das mir klarmachte, dass das nicht stimmte.
Eines Tages machte ich das Gefrierfach auf und fand Zachs Batman-Figur tiefgefroren in einer Plastiktasse voll Wasser. Kalt, maskiert und bewegungslos, hatte sie den rechten Arm nach mir ausgestreckt, um von mir befreit zu werden. In dem Moment kam Zach hereingerannt, verschwitzt und schmuddelig, und wollte ein Glas Apfelsaft. Ich hielt ihm den tiefgefrorenen Batman vor die Nase, und er sagte: »Das war Mister Freeze.« Tagelang fand ich jedes Mal, wenn ich das Gefrierfach öffnete, ein weiteres Opfer von Mister Freeze: Spiderman, Superman, Robin; und selbst Bösewichte wie Joker oder Catwoman konnten Mister Freezes Eismaschine nicht entkommen und steckten in einer Kuchenform oder einem Plastikbehälter fest.
Ich ließ sie im Gefrierfach liegen, doch es dauerte nicht lange, und es war rappelvoll. »Zach«, sagte ich, »Schatz? Was hast du mit all den gefrorenen Kerlen vor? Da ist nicht mehr genug Platz für anderes.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts machen. Doktor Solar muss sie retten.«
Ich frage ihn, wann Doktor Solar denn aufkreuzen würde. Er sah hinaus in den nebelfreien Morgen. »Heute wahrscheinlich.«
Als ich später Wäsche aufhängte, bewunderte ich im Stillen Großmutter Rosemary, wie sie während Sergios Abwesenheit alles zusammengehalten hatte. Fast war ich versucht, so zu tun, als wäre Joe hinter einem Stacheldrahtzaun eingesperrt und nicht auf einem Friedhof begraben. Da stieß Zach plötzlich einen Schrei aus, bei dem ich trotz des warmen Sonnenscheins Gänsehaut bekam. Ich rannte zum Haus. Zach stand auf der hinteren Veranda, das Gesicht puterrot und tränenüberströmt.
»Guck, was ich wegen dir gemacht habe!«, jammerte er.
Auf der Veranda, in der direkten Sonne, standen die sieben Plastikbehälter, die Zach heute Morgen aufgereiht hatte. Die Actionfiguren lagen mit dem Gesicht nach unten im geschmolzenen Eiswasser.
»Jetzt sind sie alle ERTRUNKEN !«
»O Schatz …« Warum hatte ich das nicht vorausgesehen?
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