Ich spazierte durch Haarnadelkurven und legte hin und wieder eine Verschnaufpause ein, und je höher ich kam, desto größer wurden die Abstände zwischen den Häusern.
Schließlich sah ich das Schild VORSICHT BISSIGER KÜNSTLER und ein Stück dahinter das Haus, dessen Anblick mich überraschte: Bei einem Mann, der nur selten seine Haare und Fingernägel schnitt, hatte ich so etwas nicht erwartet.
Das Haus war mit großer Sorgfalt gebaut, jedes einzelne Stück Holz schien mit Bedacht gewählt, und jeder einzelne Flussstein passte perfekt in das Fundament und den massiven Schornstein. Diese Bauweise würde allen Naturgewalten trotzen – selbst wenn der Hügel von einer Lawine aus Schlamm und Stämmen erfasst würde, müsste sich die zerstörerische Masse in der Mitte teilen und rechts und links am Haus vorbeirollen, es unberührt lassen. Die Eingangstür mit den in Kupfer eingefassten Buntglasscheiben war flankiert von Töpfen voller winziger weißer Blumen mit rotem Rand, genannt Lippenstiftsalbei. Eine Reihe verschieden großer und unterschiedlich geformter Glöckchen rührte sich kurz im Schlaf und verstummte wieder. Ich klopfte und löste irgendwo in den Tiefen des Hauses lautes Gebell aus.
Eine raue Stimme sagte: »Petunia, halt den Mund, Mädchen. Und du musst dich nicht gleich so aufregen, Jerry.« Clem Silver öffnete die Tür und sah mich lange an. Er trug ein altes, California -Sweatshirt voller Farbkleckse und eine weite Jogginghose. Sein Pferdeschwanz lag wie ein schlanker Nerz drapiert über der Schulter und reichte bis zu seiner Brust. »Oh, Ella Beene! Treten Sie ein, kommen Sie.« Er drehte sich um und schlurfte in Lammfellslippern den Flur entlang. Die Hunde, die aufgehört hatten zu bellen, inspizierten mich kurz, wandten sich anscheinend unbeeindruckt um und folgten Clem. Ich trat ins Haus.
Es war warm und in goldenes Lampenlicht getaucht. »Wow«, sagte ich. »Sie haben es ja außergewöhnlich schön hier.«
Er drehte sich erfreut zu mir um. »Danke sehr. Mir gefällt’s auch.«
»Es ist wirklich wunderbar hier im Wald.«
Er nickte mehrmals. »Ja, ja! Hier kann man verstehen, dass das alles vor dreihundertmillionen Jahren einmal unterm Meer lag.« Er lächelte. »Moment. Ich sollte Ihnen Tee anbieten, oder vielleicht Kaffee?«
Ich entschied mich für Tee, und während er ihn machte, erzählte er. »Die Leute glauben, ich lebe hier oben, um weit weg vom Fluss zu sein, wegen der Überflutungen und dem, was ich als Kind erlebt habe.«
»Was haben Sie denn erlebt?«, fragte ich.
»Oh … ich hab ganz vergessen, dass Sie ja nicht von hier sind … Es ist eine alte Geschichte, ganz, ganz alt. Aber wenn ich jetzt drüber nachdenke« – er nahm eine Schachtel mit Teebeuteln aus dem Regal – »und angesichts dessen, was Joe junior passiert ist …« Er sah mich an, nickte. »Ja, sie könnte Ihnen gefallen.«
Und so erzählte mir Clem Silver von der Flut 1937, als er noch ein kleines Kind war. Seine Familie hatte am Fluss gelebt, drei Häuser weiter von Marcella und Joe senior, wo heute die Palomarinos wohnten. Clem war irgendwohin gelaufen, und niemand konnte ihn finden. Alle Leute wurden evakuiert, bis auf seine Eltern, die ihn verzweifelt suchten. Der Fluss stieg immer höher, und gerade, als seine Mutter ihn hinter einem Holzstoß beim Beobachten einer Spinne entdeckte und die Arme nach ihm ausstreckte, wurde er von einer Sturzflut weggerissen und flussabwärts getrieben, wo sie ihn nicht mehr erreichen und bald auch nicht mehr sehen konnte.
»Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter schrie und ich Angst hatte, und dann füllten sich meine Ohren und Augen und mein Mund mit Wasser, und eine wunderbare Stille trat ein. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Und über mir dieser herrliche Lichtstrahl.
Man hört ja oft von Leuten mit Nahtoderfahrung, dass sie dem Licht entgegengehen und so. Aber ich war tief unten im dunklen Flusswasser und hab nichts weiter gesehen als das Licht, und mehr brauchte ich auch nicht zu sehen, und es hat mich an die Wasseroberfläche geführt, an die Luft – und mir noch etliche Lebensjahre beschert und nicht irgendeine himmlische Begegnung, was mir ganz recht ist.
Aber, Ella Beene, eines muss ich Ihnen sagen: Ich bin damals fast ertrunken, und es war das friedvollste Gefühl, das ich je im Leben hatte, und seither suche ich es überall. Und ich glaube, dass das auf sonderbare Weise – und seien wir ehrlich, ich bin sonderbar – der Grund ist, warum ich mich in diesem Wald niedergelassen habe. Weil ich hier dem Grund des Flusses am nächsten bin.«
»Sie haben sich da unten friedvoll gefühlt?«
»Ja.« Er kreuzte die Arme. »Ich weiß, es klingt seltsam, aber so war es.«
Ich starrte auf die grauen Stoppeln an seinem Kinn, in seine hellen, feuchten Augen. »Danke, dass Sie mir die Geschichte erzählt haben«, sagte ich, wandte den Blick ab und ließ ihn durchs Zimmer schweifen, kämpfte gegen die Tränen an. »Und hier kommt es mir sehr friedvoll vor.«
Er erzählte, seine Exfrau hätte die Dunkelheit nicht ertragen. »›Du bist Künstler‹, hat sie immer gesagt, ›brauchst du denn kein lichterfülltes Studio?‹ Wahrscheinlich war ich so stur wie ein Rankenfüßer, der auf seinem Felsen festgewachsen ist. Aber ich mag das Licht, das sich seinen Weg bahnen muss. Kontraste interessieren mich am meisten. Hier achte ich viel mehr auf das Licht, wie es sich elixierartig nach unten ergießt. Dunkelheit zwingt uns, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, während das Irrelevante verblasst. Na, das klingt doch wirklich kunstbeflissen, oder? Hier, Ella Beene, ich zeige Ihnen die Karte, deshalb sind Sie doch sicher den langen Weg hergekommen.«
Ich folgte ihm, Petunia und Jerry hinaus ins Studio, das ungefähr so baufällig war, wie ich mir sein Wohnhaus vorgestellt hatte. Da, auf einem Tisch inmitten von Farben, alter Limodosen und überquellender Aschenbecher, lag die Karte.
Er hielt sie für mich hoch: eine märchenhaft gezeichnete Schatzkarte mit magischen Orten, die Farben und Textur sowohl natürlich wie prächtig.
»Wow. Diese Karte wird dafür sorgen, dass das Konzept von DAS LEBEN IST EIN PICKNICK wirklich funktioniert.«
»Dann gefällt sie Ihnen?« Er lachte in sich hinein. »Ich kann sie also vervielfältigen lassen?«
»Ich finde sie wunderbar.« Ich umarmte ihn, diesen alten, nach Zigaretten und Terpentin riechenden Zauberer, der genug über Alchemie wusste, um in meinen Kopf zu steigen und das zu Papier zu bringen, was mir die ganze Zeit vorgeschwebt hatte, und der mir obendrein eine Geschichte erzählt hatte, die mir irgendwie guttat.
Ich trat aus der goldenen Wärme von Clems Haus, und mein Kopf wurde ruhig und füllte sich mit der kühlen, friedvollen Stille des Waldes, die ich auf dem hastigen Hinweg nicht wahrgenommen hatte. Rostrote Kiefernadeln bedeckten den Boden, dämpften meine Schritte. Das hügelige Land war überzogen mit kräftigem Efeu, Schwertfarnen, Stauden-Aralien, Oxalis oregana, Brombeersträuchern und Gifteiche. Die Lorbeerbäume, Douglastannen und Steinfruchteichen sahen mehr wie Büsche als Bäume aus neben den Mammutbäumen, die so hoch wuchsen, dass ich den Kopf weit in den Nacken legen musste, nur um den blauen Fleck Himmel zu sehen, der über dieser Schattenwelt schwebte. Einige der Häuser hier lagen wie Hütten der Hobbits an die Hügel geschmiegt und mit erleuchteten kleinen Fenstern in der Mittagsdunkelheit. Zwei Hütten waren samt Hügel ein Stück nach unten gerutscht, wohl schon vor Jahren, denn Efeu rankte durch die Bretter und demonstrierte so sein Besitzrecht. Ein Haus war vor kurzem vollkommen ausgebrannt und innen kohlrabenschwarz, wie die vor langem ausgebrannten Stümpfe der Mammutbäume, die noch immer hier standen. Einige der Häuser waren sehr hübsch – sowohl ältere, sorgsam instand gehaltene Sommerresidenzen aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert als auch moderne Bauten mit vielen Fenstern und Oberlichtern, um das wenige Licht hereinzulassen.
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