Efeu rankte sich die Bäume hoch und hing fast wie Seetang an ihnen herab. Alles war dunkel und still.
Wie unter Wasser.
Es war jetzt fast drei Monate her. Drei Monate! Wie war das möglich? Dass ich nie wieder sehen würde, wie er sich im Garten grinsend mit dem Handrücken über die Stirn wischte, oder wie er seine Kamera auf etwas richtete, den Körper wie ein Komma gekrümmt, als wollte er sagen: Halt inne und betrachte diesen Moment . Oder wie er auf dem Markt mit Orangen jonglierte? Hatten wir Orangen im neuen Laden? Hatte ich die Orangen vergessen? Joe hätte die Orangen nie vergessen.
Wie er Annie und Zach in einem Schwupp rechts und links auf den Arm nahm, ihr Lachen, ihre glücklichen Daddy Daddy Daddy- Rufe. Wie er sie im Zimmer umherwirbelte und auf seine Knie setzte, Großvater Sergios alte Weise intonierend: Hü-hott, mein Pony, wir sind auf dem Weg zu Leoni, und kaufen Makkaroni, also erzähl mir nix von Moni, mach einfach hü-hott, mein Pony … hü-hott! Und sie genau an dem Punkt mit den Oberschenkeln in die Luft warf.
Sah er uns von irgendwo zu? Wusste er vom Laden? War er einverstanden? Glücklich, erleichtert, entrüstet? Hatte ich ihn befreit, damit er wiedergeboren oder das Nirwana erreichen oder ein Engel werden konnte oder was immer seine Bestimmung war?
Dort in den Wäldern verstand ich, warum vor Wald so oft verzaubert steht – es hatte etwas Mystisches, Jenseitiges, von uralter, lebendiger Pracht umgeben zu sein. Wo die Partikel eines Lichtstrahls überirdisch wirkten und die eines anderen wie das Experiment eines Hexenmeisters. Wo die Luft nach Lorbeerblättern, Lehm, Holzfeuer und Tannennadeln und Nebel duftete – obwohl es dort draußen sonnig und warm war … und ganz weit da oben auch. Ich erinnerte mich an einen Artikel von Wissenschaftlern, die entdeckt hatten, dass in den Kronen von Mammutbäumen Ruderfußkrebse lebten – Schalentiere, die zur Nahrung der Bartenwale gehörten. Keiner konnte genau sagen, wie sie dahin gekommen waren, aber alle konnten es sich vorstellen. Die Sperlinge dort oben konnten auch Elritzen sein, so ein traumverlorener Ort war das hier. Womöglich spazierte ich gerade auf dem Meeresboden, und Joe könnte vorbeigeschwommen kommen.
Wann war ich zuletzt an einem Haus vorbeigekommen? Wo war ich? Ich phantasierte mir meinen toten Ehemann, wie er durch den Wald schwamm, und hatte einen Laden voller Lebensmittel und eine Familie, die von meiner Rückkehr abhing, und nicht zuletzt von meiner intakten geistigen Gesundheit. Ich wollte nicht die Frau sein, die sich beim Abholen einer Picknickkarte auf dem Rückweg verirrt hatte. Aber worum ging es hier eigentlich? Ich hatte Monate damit zugebracht, den Laden für einen Neubeginn umzugestalten, bei dem auch ein Stück von Joe gerettet werden sollte. Es war gut gewesen, ein Projekt zu haben, beschäftigt zu sein, abgelenkt. Einen Redwood zu spielen, der über allem thronte, nach der Sonne griff.
Doch ein Teil von mir wollte sich hier unter den Farnwedeln verstecken und bei den Schnecken schlafen.
Ein Zweig knackte, und mein Kopf zuckte hoch. Über den Weg hinweg starrte mich ein schwarzschwänziges Reh aus riesigen dunklen Augen an. Noch ein Knacken, und ich sah ihre beiden Kitze unweit entfernt von mir stehen, die weißen Fellflecken jetzt im Frühherbst schon am Verblassen, doch die Beine noch so zerbrechlich wie die Stiele von Weingläsern. Ich rührte mich nicht, und das Muttertier starrte mich weiter an. Ich weiß, wie du dich fühlst , hätte ich ihr am liebsten gesagt. Wir fühlen das Gleiche, du und ich . Doch ich wusste, dass sie in mir einen Eindringling sah, der zwischen ihr und ihren Babys stand. Ich blieb weiter reglos stehen. Sie schien ihnen etwas signalisiert zu haben, denn plötzlich sprangen die Kitze direkt vor mir über die Straße, so nahe, dass ich sie mit ausgestreckter Hand hätte berühren können. Nun hüpften alle drei den Hügel hinauf und verschwanden zwischen den Bäumen.
Den Rest des Weges lief ich im Eilschritt, zurück zum Laden, zu Annie und Zach.
Am nächsten Morgen lag ich im Bett und dachte gerade an Clems Geschichte, als Zach zu mir unter die Decke kroch und so lange eindringlich seufzte, bis ich die Augen öffnete. Er rieb sich mit Bubbys Ohr über die Wange und starrte an die Decke.
»Ich vermisse Batman. Und Robin. Ich will, dass sie mit auf die riesengroße Party kommen, aber sie KÖNNEN NICHT. Und Daddy KANN NICHT. Und ich bin ganz ALLEINE.«
»Ich werde da sein, und Annie auch.«
»Ich spreche von Jungen.«
»Onkel David? Alle deine Freunde?«
Er seufzte wieder. Es kam mir grausam vor, dass alle seine Lieblingsspielsachen unnötigerweise hinter dem Hühnerstall begraben lagen, wo er sie im Moment mehr denn je brauchte.
»Und nun?« Ich improvisierte ein bisschen. »Daddy ist wirklich gestorben, er kann also nicht kommen. Aber Batman und Robin sind Spielfiguren, und vielleicht, nur vielleicht, sind sie ja nicht wirklich ertrunken.«
Er sprang hoch, die Augen weit aufgerissen. »Wirklich?« Ich nickte. Er sagte: »Aber wir haben sie gesehen. Sie waren wirklich ertrunken.« Er ließ sich zurück aufs Bett fallen und vergrub das Gesicht in Joes Kissen.
»Also ich hab gestern eine erstaunliche Geschichte gehört, die mir ein alter, weiser Mann erzählt hat.«
»Eine wahre Geschichte? Oder eine erfundene?«
»Eine, die ganz und gar wahr ist. Als der Mann ein kleiner Junge war, sogar noch kleiner als du jetzt, wäre er fast ertrunken.«
Zach schnappte nach Luft, und einen Moment lang fürchtete ich, dass meine Erklärung nach hinten losgehen würde. »Ist er gestorben, wie Daddy?«
»Nein, er ist nicht gestorben, aber fast. Er war ganz tief unter Wasser. Und er hat gesagt, dass er sich da glücklich gefühlt hatte, obwohl er fast ertrunken wäre. Aber dann ist er wieder hochgekommen, hat Luft geholt und weitergelebt.«
»Hat die Meerjungfrau ihn gerettet?«
»Nein. Weißt du nicht mehr? Das hier ist eine wahre Geschichte.«
»Oh.«
»Und jetzt denke ich … vielleicht sind Batman und Robin nur fast ertrunken.«
»Und Catwoman und Joker auch?«
Er hüpfte im Bett auf und ab, schrie und jauchzte aus Leibeskräften. Wir rannten hinaus, beide noch im Schlafanzug, und das taufeuchte Gras benetzte unsere Füße. Ich nahm die Schaufel und stieß sie in den Boden, und als Callie sah, was wir machten, fing sie auch an zu buddeln. Wir gruben eine erdverkrustete Plastikfigur nach der anderen aus – die Helden wie auch die Schurken – und hatten unser eigenes kleines Osterfest mit Actionfiguren, die erlöst von ihren Sünden just an dem Morgen wiederauferstanden, als Capozzi’s Market seine eigene wundersame Wiedergeburt erlebte.
Fast ganz Elbow kam zu unserer Eröffnung. Die Leute bevölkerten den Laden und die Veranda und standen bis auf die Straße. Selbst Clem Silver erschien, um Karten zu signieren. Die Besitzer des Elbow Inn brachten ihre große historische Fotografie von einer Picknickgesellschaft am Fluss, die gerahmt und mit einer Schleife versehen an die Wand gehängt wurde. Ich war froh und dankbar für jeden, der kam, wusste aber auch, dass DAS LEBEN IST EIN PICKNICK zum Überleben mehr brauchte als den guten Willen der Nachbarn. Denn jeder Einzelne von ihnen konnte nach Hause gehen und für einen Bruchteil des Geldes einen eigenen Picknickkorb zusammenstellen. Wir brauchten hungrige Touristen. Wir brauchten wohlhabende Menschen von außerhalb.
Wir brauchten eine Wagenladung Publicity.
Ich fasste David am Arm. »Und, wo ist die Pressemeute?«
Er tätschelte meine Hand. »Keine Sorge, sie werden über die nächsten Wochen eintrudeln. Aber irgendjemand wird heute sicher vorbeikommen. Ist es nicht wunderbar? Alle finden den Laden toll!«
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