Als ich am nächsten Morgen Geschirr spülte, zog jemand an meinem Hosenbein. Es war Zach, der mich anstarrte, den Daumen im Mund und Bubby im Arm, mit dessen Hasenohren – der türkisen Innenseite aus Satin – er sich über die Wange rieb.
»Was ist denn, mein Schatz?«
Er fing an, Bubby gegen die Küchenschubladen zu klatschen. Ich drehte das Wasser ab und ging vor ihm in die Hocke. »Was ist los, Zachosaurus?«
Er stieß einen Seufzer aus. »Wann kommt Daddy nach Hause?«
»Ach, mein Kleiner.« Ich nahm ihn in die Arme. »Daddy ist tot. Erinnerst du dich nicht? Daddy kommt nicht mehr nach Hause.«
»Ich weiß. Aber wann kommt er wieder?«
»Er kommt nicht wieder.«
»Wenn ich ein großer Junge bin?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, auch nicht, wenn du ein großer Junge bist.«
»Die Mama Lady ist wiedergekommen.«
»Das stimmt. Aber sie war auch nicht gestorben. Sie war nur woanders hingezogen und hat uns jetzt besucht. Verstehst du den Unterschied?«
Er nickte und seufzte wieder. »Kann ich einen Haferriegel haben? Einen ganzen?«
»Sicher. Aber verstehst du das mit Daddy?«
Er fing an, Bubby zu schütteln, albern herumzuhampeln und zu singen. »Mhm-hm, mhm-hm, mhm-hm, mhm-hm, mhm-hm! Und ein bisschen Milch, biiitteee.«
Der inzwischen vertraute Mhm-hm-Song, den ich kurz nach Joes Tod das erste Mal gehört hatte, bedeutete, dass er nicht mehr weiterreden wollte. Zach war drei Jahre alt und hatte Probleme, das alles zu verstehen. Herrje, ich war fünfunddreißig Jahre alt, und an manchen Tagen ging es mir genauso. Doch ich wünschte, ich könnte ihm helfen.
Am späten Nachmittag rief Paige an und sagte etwas, das mich schockierte. Ihre Worte waren wie große, blinkende Schilder, die aus dem Nebel auftauchten und mir schließlich verdeutlichten, wo wir landen würden, wenn wir diesen Weg weitergingen. Sie rief öfter an, um mit Annie zu sprechen, und ich hatte ihr immer ein paar Fragen stellen wollen, doch die Worte nie herausgebracht. Ich hatte eine physische Barriere verspürt, als würde etwas in meiner Kehle stecken und allen Fragen, die unsere Welt zerstören könnten, einen Riegel vorschieben. Aber als sie an diesem Tag anrief, atmete ich tief durch und fragte sie nach ihren Absichten. Ich klang wie ein mürrischer Vater, der den Teenager-Freund seiner Tochter ins Verhör nahm. Geplant hatte ich das nicht, doch in dem Fall hatten meine Sorgen das Sagen.
»Meine Absichten?«, fragte Paige. »Entschuldigung? Ich bin Annies Mutter. Und ich möchte mit meiner Tochter sprechen.«
Wieder atmete ich tief durch. »Ja, ich weiß, dass Sie Annie geboren haben. Aber Sie waren lange Zeit verschwunden, und Paige, ich mache mir Sorgen, dass Annie wieder verletzt wird.«
»Ach, wirklich? Wenn Sie sich solche Sorgen machen, sollten Sie vielleicht vorsichtiger Auto fahren, damit Sie nicht wieder fast einen Unfall bauen und meinen Kindern furchtbare Schimpfworte an den Kopf werfen.«
Mein Mund ging auf, doch Worte kamen nicht heraus. Dafür schlug mein Herz so laut, dass sie es wahrscheinlich durchs Telefon hören konnte.
Sie fuhr fort: »Holen Sie bitte Annie ans Telefon, oder brauche ich eine richterliche Verfügung?«
Eine richterliche Verfügung? Hatte sie richterliche Verfügung gesagt? »Paige, ich will nur – also gut, ich hole Annie.«
Was wollte sie? Einerseits verstand ich, dass eine Beziehung mit Paige für Annie gut sein konnte. Andererseits hatte ich Angst vor dem, was es für Annie und mich und Zach bedeutete. Und was war, wenn sie sich an Paige gewöhnten und sie sich dann wieder in Luft auflöste?
Trotzdem, sie war Annies und Zachs Mutter – zumindest ihre leibliche Mutter –, und wenn ihnen die Beziehung zu ihr größere Geborgenheit in dieser Welt gab, und wenn es Paige ernst damit war, nicht wieder einfach zu verschwinden, war das allemal wichtiger als irgendwelche eifersüchtigen Besitzansprüche meinerseits. Das jedenfalls sagte ich mir in den Momenten, wenn es schwerer wurde durchzuatmen, was immer öfter passierte. Besonders gegen zwei Uhr morgens. Einatmen .
Paige. Die Kinder. Die Rechnungen. Der Laden. Morgen. Übermorgen. Ausatmen .
»Mommy?«, sagte Annie hinter mir. »Warum atmest du so laut ein und aus?«
Ich drehte mich zu ihr um. Sie war sechs Jahre alt, doch in den letzen Monaten so viel reifer geworden. Es war ihr auch nichts anderes übrig geblieben. Ich hatte nicht vorgehabt, sie zu fragen, doch die Worte kamen unkontrolliert aus meinem Mund.
»Banannie? Hast du deiner Mama von unserer Fahrt zum Great America erzählt?«
Sie nickte, und zwar so heftig, dass ihr Pferdeschwanz wippte.
»Und was hast du erzählt?«
»Ich hab ihr von den Fahrten erzählt und wie viel Spaß es gemacht hat, nur dass das Riesenrad blöd war, weil wir da ewig drin festsaßen.« Sie lachte, aber es klang nervös. »Weißt du noch?«
»Ja.«
Sie schob die Hände in die Taschen.
»Was ist, Mommy?«
»Hast du vielleicht auch erwähnt, dass wir fast einen Unfall hatten?«
Wieder heftiges Nicken. »Das hat mir Angst gemacht! Weißt du noch, wie die Reifen gequietscht haben?«
»Ja.«
»Warum klingst du so komisch?«
»Annie? Hast du erzählt, dass ich dich und Zach angeschrien habe?«
Annie nickte kaum merklich und begann zu schluchzen, das Kinn auf die Brust gedrückt.
»Schatz, das ist okay. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich muss es nur wissen.«
»Sie hat mich gefragt und gefragt! Immer wieder. Und du und Daddy wolltet, dass ich in jedem Fall immer die Wahrheit sage. Und das hab ich. Du hast das G-Wort gesagt, bei dem Oma immer böse auf Opa wird, wenn er es sagt. Weißt du noch?«
Obwohl Angst mich durchströmte, musste ich lächeln. »Ja, ich erinnere mich. Aber ich versuche wie verrückt, es zu vergessen, und hatte gehofft, dass du es schon nicht mehr weißt.«
»Keine Chance. Ich erinnere mich haargenau. Du weißt doch« – sie tippte sich an die Stirn – »Elefantengedächtnis. Du hast gesagt: ›Ihr zwei haltet jetzt den Mund! So kann ich gottverdammt nicht fahren!‹ Dann hast du ganz fest aufs Lenkrad geschlagen und dir hinterher die Hand gehalten und ›Aua‹ gesagt. Hab ich was Falsches gemacht, Mommy?«
»Nein, mein Schatz. Du hast nichts Falsches gemacht, aber ich.« Und Paige , dachte ich, sagte es aber nicht. Annie löchern, um Informationen zu bekommen. Schämen sollte sie sich. Doch ich hatte gerade das Gleiche getan. Schäm dich, Ella.
Trotz der Angst, die Paige mir eingejagt hatte, ließ ich von meinem Plan nicht ab und berief ein Familientreffen ein. Inzwischen hatte David seinen Eltern von meiner Idee mit dem Laden sowie der finanziellen Lage erzählt. Joe senior redete nicht lange drumherum. »Ella, hör mir zu. Diese Familie hat schon mehr schwere Zeiten durchgestanden. Kurz nachdem Papa Capozzi’s Market eröffnet hatte, musste er aufgrund von Umständen, auf die er keinen Einfluss hatte, weggehen. Aber diese Stadt hielt zusammen, half meiner Mama und dem Laden, und die Familie hat überlebt. Dieser Laden ist das Vermächtnis meines Vaters, unser Familienerbe. Und eines Tages wird er an Annie und Zach übergehen.« Er umfasste meine Schultern und sah mir fest in die Augen. »Mutter und ich werden alles tun, um den Laden retten zu helfen. Wir haben für schwere Zeiten ein bisschen was zurückgelegt. Wir helfen dir bei der Modernisierung, es ist für unsere Enkelkinder. Welche Großeltern könnten da nein sagen?«
Wenn Joe doch nur gewusst hätte, wie sein Vater reagieren würde.
Doch eines hatten Joe und ich richtig gemacht, nämlich ein Testament verfasst. Gleich nach der Hochzeit hatte er mir den Laden vererbt, unter der Voraussetzung, dass ich für Annie und Zach sorgte, sollte ihm etwas passieren. Jetzt erklärte ich mich einverstanden, die Versicherungssumme zum großen Teil in den Laden zu investieren und Marcella, Joe senior und David Anteile zu verkaufen. Im Gegenzug würden sie Geld reinschießen, wir würden den Laden modernisieren und mit einer Profiküche ausstatten. Anfangs würde es eng werden und keiner groß etwas verdienen, aber wir waren alle bereit, das Ganze als langfristige Investition zu betrachten. Außerdem brauchten wir alle ein großes Projekt und wollten es in Gedenken an Joe tun. David tätschelte Marcellas Arm und sagte: »Es wäre mir eine Ehre, der Koch zu sein, aber nur mit Mamas Hilfe.« Marcella strahlte – seit Joes Tod hatte ich sie nicht mehr so glücklich gesehen.
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