Im Bahnfenster konnte ich mein Spiegelbild sehen und plötzlich checkte ich, was der Rotschopf gemeint hatte, als er sagte, ich solle nicht beim Anblick meines Spiegelbildes erschrecken. Mein Gesicht sah aus wie eine zermatschte Pflaume, meine Wangenknochen waren doppelt so dick wie normalerweise, mein Auge leuchtete gelblich violett, meine Lippe war aufgeplatzt und über meiner rechten Augenbraue klebte ein Pflaster. Oh Mann, da hatte der Kerl sich echt mal an mir ausgetobt.
An der letzten Station dieser Linie stieg ich aus und musste zugeben, dass es schon ziemlich dreist war, ohne Angst bis zur Endstation zu fahren, wenn man keinen Fahrschein bei sich hatte. Aber ich war eben ein ganz harter Bursche.
Grinsend stand ich auf dem schmutzigen Gehsteig und blickte mich um. War eigentlich eine ganz nette Gegend hier, eine Ex von mir wohnte in der Nähe und ich spielte mit dem Gedanken, sie zu besuchen. Zum Glück erinnerte ich mich noch rechtzeitig daran, dass unsere Beziehung zerbrochen war, weil ich mit ihrer Schwester geschlafen hatte, und da ich keine Zickereien oder gar Heulkrämpfe heraufbeschwören wollte, verwarf ich diese Idee gleich wieder, schulterte meinen Rucksack und folgte stattdessen dem Hinweisschild, das mir verriet, dass hier ganz in der Nähe ein Freibad war.
Ich grub am Eingang nach meinem Geldbeutel, stopfte anschließend die Klamotten unordentlich in den Rucksack zurück, ignorierte die geschockten, verwirrten oder angewiderten Blicke der Großfamilien und Senioren, die mein Tun beobachteten, und kaufte mir bei der netten Lady am Schalter eine Eintrittskarte. Gern hätte ich auch nach ihrer Handynummer gefragt, aber ich hielt mich zurück. So wie ich aussah, würde ich vorläufig keine ins Bett kriegen. Erleichtert betrat ich die Duschräume, ging in eine der Kabinen, verriegelte die Tür, zog mich aus und stellte mich unter den heißen Wasserstrahl. Ich wusch mein Haar, rubbelte meinen Körper ab und hielt mein Gesicht in den warmen Strahl. Danach fühlte ich mich fast wieder menschlich. Da ich kein Handtuch eingepackt hatte, trocknete ich mich notdürftig mit dem Kapuzenshirt ab, schlüpfte in frische Boxershorts, stopfte die getragenen Klamotten in den Rucksack und verließ die Kabine.
Wieder spürte ich Blicke auf mir, diesmal jedoch waren sie von der begehrlichen Sorte und stammten von jungen Mädchen, die sich am Anblick meines festen Waschbrettbauchs und meiner muskulösen, glatt rasierten Brust ergötzten. Ich wusste, dass ich einen guten Oberkörper hatte, nicht umsonst ging ich regelmäßig trainieren. Ich winkte einer vierköpfigen Mädchengruppe zu, die mich besonders auffällig anglotzte, und das Gekicher und Gekreische war groß. Grinsend ging ich weiter. Mädchen, so was von berechenbar!
Bei der netten, jungen Dame am Empfang kaufte ich mir eine große Flasche Wasser und ein Eis am Stiel. Vielleicht würde das gegen die noch immer in meinem Kopf tobenden Schmerzen helfen.
„Ach so, und wie viel muss ich zahlen, damit du mir auch noch deine Handynummer gibst?“, flirtete ich sie nun doch an, als ich ihr einen Fünfer für Eis und Wasser rüberschob. Vielleicht hatte ich mit nacktem Oberkörper bessere Chancen bei ihr, weil sie dann über mein Gesicht hinwegsah.
„Tut mir leid“, sie lächelte zurückhaltend, „aber ich steh nicht so auf Bad Boys.“
„Woher willst du wissen, dass ich ein böser Junge bin?“, fragte ich, setzte meinen unschuldigsten Dackelblick auf und schnappte mir Eis und Wasser.
Lachend wischte sie den klebrigen Tresen ab. „Hast du mal in den Spiegel geschaut?“, fragte sie. Nee, hatte ich nicht. Aber ins Bahnfenster ...
„Ach, das.“ Ich winkte gespielt gleichgültig ab. „Das sind doch nur ein paar Kratzer, nichts Dramatisches. Hatte nur ’ne etwas unschöne Begegnung mit einem Pfosten.“ Das traf es ganz gut.
Die Kassiererin lachte glockenhell und strich sich die honigblonden Haare aus der Stirn. Ich sah ihr in die Augen ‒ grün, geheimnisvoll, interessant, aber bei Weitem nicht so schön wie die von Edda. Herrgott, warum dachte ich eigentlich ständig über die Augen dieses Mädchens nach?
„Tut mir leid. Aber ich hab einen Freund“, erwiderte die Lady nun.
Ach, das fiel ihr jetzt ein? Interessant. Ich war mir sicher, dass sie den Freund nur erfunden hatte, aber da die Schlange hinter mir immer länger wurde und sich nun ein dicker Typ hinter dem Mädchen aufbaute, der nach Pommesfett roch und sich bestimmt nicht scheute, es einzusetzen, beschloss ich, es gut sein zu lassen. Ich hätte sie bekommen, wenn ich drangeblieben wäre. Ich bekam immer, was ich wollte. Oder wen ich wollte ...
„Na dann“, ich klopfte auf den Holztresen, „nichts für ungut. Ich glaub, dein Freund steht schon hinter dir. Tschüss.“ Während sie sich überrascht zu dem übergewichtigen Typen umdrehte, der locker ihr Großvater sein konnte, machte ich mich aus dem Staub.
Ich verbrachte den Nachmittag im Schatten der Bäume, schleckte mein Eis, leerte die Wasserflasche, döste vor mich hin und sah eine Weile den vier Mädels von vorhin beim Hockeyspielen zu. Sie hatten sich extra so positioniert, dass sie in meinem Blickfeld mit ihren süßen, leicht bekleideten Hinterteilen herumhüpften. Dabei brüllten sie so laut wie möglich die Namen ihrer Freundinnen durch die Gegend, damit ich auch mitbekam, wie sie alle hießen.
Irgendwann wurde mir das Ganze zu langweilig. Mittlerweile war es halb fünf, der Kater zog sich langsam zurück und ich fühlte mich um einiges klarer im Kopf. Ich schnappte mir meinen Rucksack, warf ihn mir über die Schultern und schlüpfte in meine schwarzen, ramponierten Turnschuhe. „Tschüss, Mädels“, rief ich, winkte ihnen lächelnd zu und stapfte davon, ohne mich noch mal umzudrehen und auf die Verzückungsschreie zu reagieren.
Ich hatte es tatsächlich geschafft. Nun saß ich in meinem Auto und war mit 150 Sachen auf der Autobahn unterwegs, auf dem Weg nach Berlin. Ich fühlte mich gut, die Kopfschmerzen waren weg, mein Gesicht tat zwar hin und wieder weh, aber nur, wenn ich lachte oder sonst irgendeinen Muskel bewegte.
Ein alter Freund von mir, Marvin, lebte in Berlin, vor vier Jahren war er dorthin gezogen. Früher waren wir zusammen geskatet, hatten uns auf Partys mit Mädchen vergnügt und den gleichen Dealer gehabt. So was verband. Jetzt war ich also auf dem Weg zu ihm, würde ein paar Nächte bei ihm pennen und in der deutschen Hauptstadt meinen Spaß haben, bevor ich mich daranmachte, den Aufenthaltsort meiner Mutter zu ermitteln. Ich wollte sie nicht aufsuchen, ehe meine Wunden verheilt waren, schließlich wollte ich sie nicht zu Tode erschrecken. Außerdem wäre mein Gesicht ein einziger Vorwurf gewesen, dass sie mich verlassen hatte. Und ich wollte ihr keine Vorwürfe machen. Ich wollte sie nur endlich wiedersehen, sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass ich sie liebte und vermisste.
Ich überholte einen Lkw, blieb gleich auf der Überholspur und gab mehr Gas. Die Geschwindigkeit berauschte mich, gab mir ein gutes Gefühl. In ein paar Stunden war ich in Berlin und dann konnte das wahre Leben beginnen.
***
Edda:Ich lag am Strand von Ibiza zwischen Timos Beinen, mein Kopf ruhte auf seiner Brust, ich hatte eine Sonnenbrille auf der Nase und eine Schirmmütze auf dem Kopf, während die Sonne unbarmherzig auf uns herabknallte. Ich konnte quasi da-
bei zusehen, wie sich meine Sommersprossen vermehrten.
Kim war im Wasser und knutschte mit irgendeinem spanischen Typen herum, den sie vor fünf Minuten kennengelernt hatte. Seit wir hier waren, riss sie einen nach dem anderen auf. Ich konnte noch immer nicht so ganz fassen, dass Bastian tatsächlich mit ihr Schluss gemacht hatte.
„Er will nichts verpassen“, hatte sie schluchzend erzählt, als wir uns getroffen hatten, um über die plötzliche Trennung zu reden. „Er meinte, wir würden doch jetzt ohnehin eigene Wege gehen, unsere Lebensentwürfe würden nicht zusammenpassen, er wolle uns beiden nicht die Chance auf neue Erfahrungen verbauen.“
Читать дальше