Alwin Meyer
Mama, ich höre dich
Mütter, Kinder und Geburten in Auschwitz
Steidl
Cover
Titel Alwin Meyer Mama, ich höre dich Mütter, Kinder und Geburten in Auschwitz Steidl
Einleitung
»Uns war sehr bange«
»Der oberste Zweck war Vernichtung«
Kinder aus vielen Ländern
Mütter mit kleinen Kindern
Schwangere Frauen und Geburten in Auschwitz
Geboren in Auschwitz und in Nováky
»Ein [SS-]Hund schleppte mein Kind auf den Platz« Die Geschichte von Joseph Fefferling und seiner Mutter Anna
»Als ich in Auschwitz geboren wurde, konnte ich nicht einmal schreien« Die Geschichte von Angela Orosz-Richt und ihrer Mutter Vera
»Ich habe sieben Babys in Auschwitz gestillt« Die Geschichte von Viktor Polschtschikow und seiner Mutter Anna
»Meine Mutter hatte große Angst um mein Leben« Die Geschichte von Władysław Osik und seiner Mutter Katarzyna
»So habe ich eine Familie und einen Namen bekommen« Die Geschichte von Barbara Wesołowska, ihrer mutmaßlichen Mutter Katja Kulik und ihrer Adoptivmutter Władysława Wesołowska
»Mehrere Mütter haben mich abwechselnd gestillt« Die Geschichte von Bogdan Chrześciański und seiner Mutter Henryka
»Ja, wir haben dich adoptiert« Die Geschichte von Jadwiga Teresa Wakulska, ihrer Mutter Karolina Pająk und ihrer Adoptivmutter Leokadia Worobiej
»Zeichen des Lebens in einer Zeit des Todes« Die Geschichte der Schwestern Eva Umlauf und Nora Sbornik sowie ihrer Mutter Agi Hecht
»Drei Jahre kämpften meine Eltern um mein Leben« Die Geschichte von Maciej Niewiadomski und seiner Mutter Leokadia Niewiadomska
»Ich sah wie ein bald an Hunger sterbendes Baby aus« Die Geschichte von Zofia Wareluk und ihrer Mutter Jadwiga Chyłkiewicz
»Zu meiner Milchschwester Angela habe ich bis heute Kontakt« Die Geschichte von György Faludi und seiner Mutter Erzsébet
»Zwillinge raus!«
Todesmärsche und andere Lager
Vom Leben danach
Anmerkungen
Abbildungsverzeichnis
Danksagung
Impressum
Angela Orosz-Richt (geborene Bein) wurde um den 21. Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau geboren.
Die in Auschwitz befreiten Babys und kleinen Kinder kannten die Vorstufen des Todes oft besser als das Leben. Unruhig und verzweifelt sind manche bis heute, weil sie nicht wirklich wissen und sich ständig fragen: »Wer bin ich?«, »Lebt meine Mutter noch?«, »Wo ist meine Schwester?«, »Wurde mein Vater tatsächlich vergast?«
Die Häftlingsnummer, am linken Unterarm, Oberschenkel oder Po eintätowiert, ist oft genug das Einzige, was Auskunft gibt: Auschwitz.
Die befreiten Mädchen und Jungen waren nur noch Haut und Knochen. Manche wussten nichts über ihre Herkunft. Fast alle waren Waisen. Sie trauten oft keinem Menschen mehr. Erwachsene waren für sie wie Kinder ohne jede Lebenserfahrung.
Überleben ist noch nicht leben, ist Zwischenzustand, bedeutete Leben lernen. Die befreiten Kinder mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können.
Bogdan Chrześciański im Alter von drei Jahren in Warschau. »Am 7. Januar 1945 kam ich in Auschwitz-Birkenau auf die Welt.«
Über die grausamen Verbrechen in Auschwitz ist vieles berichtet worden. Wenig bekannt ist die Geschichte der Kinder, vor allem die der Babys geblieben, die unter unvorstellbaren Bedingungen im größten Vernichtungslager Nazi-Deutschlands geboren wurden. Schwangere Frauen wurden in der Regel nicht in das Lager eingeliefert, sondern sofort getötet. Neugeborene und ihre Mütter, die am Leben blieben, waren große Ausnahmen. Überlebenschancen hatten insbesondere die Babys, die in den letzten Wochen, vor allem in den letzten Tagen vor der Befreiung, in Auschwitz auf die Welt kamen. 1
Besonders die kleinen Kinder hatten nach ihrer Befreiung keinerlei Verhältnis zu den Dingen des täglichen Lebens. Sie kannten sie nicht. Tische dienten ihnen als Sitzgelegenheiten, Stühle als Wurfgeschosse, Essbestecke als Musikinstrumente. Sie wussten nicht, wie sie sich waschen sollten. Spiele waren ihnen fremd. Einige konnten gar nicht richtig gehen, bewegten sich nur im Gleichschritt fort, so wie sie es von den Lagerappellen gewohnt waren. Manche konnten sich nicht einmal an Mutter und Vater erinnern. Die Kinder waren auffallend reizbar. Ihre Stimmungen schwankten stark. Gegenüber ihrer neuen Umgebung verhielten sie sich lange misstrauisch. Wenn sie jemand verließ, setzten einige jüngere Kinder das mit dem Tod gleich – eine Erfahrung, die sie im Lager täglich hatten machen müssen.
Die Lebensfreude und Lebenslust neu oder wieder zu gewinnen, schien schwierig bis unmöglich. Alles konnte ständig ans Lager erinnern: Beim Ausziehen wurde automatisch die Kleidung nach Läusen abgesucht. Der Anblick von Uniformen löste Angst aus. Wer nicht genau hinsah oder wem es unmöglich war, in Richtung eines Uniformierten zu schauen, meinte immer, einen SS-Mann vor sich zu haben. Ein Gang durch ein Metalltor, das an die Tore der einzelnen Lagerabschnitte in Auschwitz-Birkenau erinnerte, ließ Panik entstehen. Der Klang einer unbekannten Sprache erinnerte an das Lager: Vielleicht kann ich den Befehl nicht verstehen und deshalb nicht ausführen, was den Tod bedeutet. Beim Haareschneiden kamen die Erinnerungen an die kahlgeschorenen Köpfe im Lager zurück. Metallgeschirr zu benutzen war unmöglich geworden – ebenso wie in langen Schlangen zu stehen. Zum Arzt gehen zu müssen löste Panikreaktionen bei den Kindern und Jugendlichen aus, die selber für medizinische Experimente im Lager missbraucht worden waren. Beim Reisen mit der Eisenbahn hatte man sofort die Deportationszüge vor sich.
Die Mädchen und Jungen lebten längere Zeit in Furcht, dass ihnen etwas entrissen wird: vor allem Essen und Kleidungsstücke. Essen zu verstecken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie verteidigten es, als ginge es um ihr Leben. Denn im Lager hatte jeder noch so kleine Besitz einen unmessbaren Wert gehabt. Jeder kleine Kanten Brot hatte für ein, zwei oder mehr Tage das Weiterleben ermöglicht. Auch verdorbenes Essen durfte nicht weggeworfen werden. Entsprechende Forderungen von Erwachsenen, die nicht im Lager gewesen waren, wurden mit ungläubigen Blicken und entsprechenden Gedanken quittiert: »Ihr habt keine Ahnung vom wirklichen Leben!« Manche Kinder und auch Jugendliche vermieden zunächst jede Arbeit. Sie mussten mit ihren Kräften haushalten. Im Lager hatten sie gelernt: »Nur bei guter Gesundheit kann ich überleben.« Außerdem sagten sie sich: »Wir haben schon genug für die Deutschen gearbeitet.« Sich an die Regeln dieser Welt zu gewöhnen fiel schwer. Im Lager hatten sich alle geduzt. In der Freiheit war das anders. Offenbar waren äußere Höflichkeitsformen manches Mal wichtiger als wirkliche Anteilnahme und Herzlichkeit. Dabei genügte es doch, Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben und zur Schule gehen zu können.
Viele Kinder hatten das Vertrauen in und zu den Menschen verloren. Und da war die Scham, von den schlimmen Erlebnissen mitunter nicht wirklich erzählen zu können. Andere, die keine Lagererfahrung hatten, hielten sie sowieso schon für »merkwürdig« und würden sie für noch »komischer« halten, wenn sie darüber berichteten. Wirklich verstanden fühlten sich die Kinder insbesondere von Menschen, die auch in Auschwitz oder anderen Lagern gewesen waren. Deshalb knüpften sie vor allem untereinander Kontakte. Ohne viele Worte verstanden sie sich oft sofort. Vor allem in den Nächten wurde Auschwitz wieder zur Realität: sich erinnern müssen, wie der Hunger den Magen umdreht. Sich erinnern müssen an die Kälte, die das Knochenmark durchdringt. Sich erinnern müssen an den Gestank von verbranntem Fleisch. Sich erinnern müssen an die Selektionen durch die SS, die einem Mutter und Vater, Schwester und Bruder, Großmutter und Großvater, Tanten und Onkel, Freundin und Freund nehmen. Angst davor haben, dass die eigene Nummer aufgerufen wird. In solchen Augenblicken spüren sie erneut den in Auschwitz allgegenwärtigen, jeden Augenblick drohenden Tod.
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