Er akzeptierte es, wandte sich kopfschüttelnd wieder seinem Buch zu und Silvia erfuhr nicht, was dieses „es sei denn“ meinte, wagte sich danach nicht zu erkundigen.
Was war nur aus ihr geworden, dass sie sich vor einem Aufseher fürchten musste, der über die Einhaltung schmählicher Regeln achtete, die strenges Gesetz für sie waren, wie hatte sie sich auf so etwas nur einlassen können? Warum begehrte sie nicht auf, weshalb verlangte sie nicht, augenblicklich nach Hause zurückzukehren? Würde man sie wirklich gegen ihren erklärten Willen festhalten? Es wird dir nichts geschehen, was du dir nicht tief in deinem Herzen wünschst, hatte die Herrin behauptet. Sollte sie etwa recht haben, war es mehr als nur Furcht, die sie schweigen, erdulden und befolgen ließ, war das möglich?
Maria gesellte sich zur kleinen Gruppe, blieb neben dem Sofa stehen, schaute mit dem Versuch eines Lächelns zu Silvia herab. „Willst du mal in deine Schublade schauen?“
„Schublade? Was meinst du damit?“
Maria meinte eine Schublade, nichts anderes, kein Codewort für etwas Obszönes, wie Silvia im ersten Moment befürchtet hatte. Sie befand sich im schwarzen Schrank, für jedes der Mädchen gab es eine, jede mit einem Namensschild versehen, nur eine der sechs war namenlos.
„Was ist da drin?“, fragte Silvia misstrauisch. „Noch mehr Regeln?“
„Aber nein. Es sind Dinge, die wir für den Unterricht brauchen. Und manchmal gibt es noch eine kleine Überraschung. Schau doch mal.“
Silvia schaute mal, wenn auch mit dem Argwohn, der ihr hier im Hause geboten schien. Doch fand sie nichts Anstößiges darin, sondern einen Schreibblock, Briefpapier, ein dünnes Büchlein ohne Titel, ein Buch über Frankreich, das sie zum vorgeblichen Urlaubsland erwählt hatte, ein Deutschbuch mit Grammatikregeln (Regeln, also doch!) und ein Buch mit Sagen der griechischen Mythologie. Auch das Adressbuch, das sie mit hierhergeschleppt hatte, befand sich darin – und eine blau eingebundene Kladde mit unlinierten Seiten und einem Lesebändel, genau eine solche, die sie als Tagebuch verwendete.
Sie nahm sie ebenso erfreut wie verwundert heraus. „Wie kommt es, dass ich so etwas hier finde?“
„Die Herrin fragt unsere Gebieter nach unseren Vorlieben und Wünschen.“
Silvia wiederholte die Worte andächtig. „Sie fragt nach unseren Wünschen … wer hätte das gedacht?“
„Manchmal nimmt man tatsächlich Rücksicht auf uns.“ Fast klang es, als spräche Maria von einem Wunder.
Aber konnte man hier seine Gedanken und Gefühle denn aufschreiben? Zweifel tauchten in Silvia auf. „Ich kann es nicht wegschließen. Es wird doch bestimmt von irgendjemand gelesen?“
„Wer kann das schon wissen? Aber bisher hatte noch keine von uns das Gefühl, dass die Schublade angerührt würde.“
Es war eine vage Beschwichtigung, aber besser als keine. Und weshalb sich um heimliche Leser sorgen, da sie hier in diesem Haus ja sowieso das Innere nach außen stülpen würde, wie Silvia fürchtete. Sie nahm den rubinroten Füller zur Hand, der ebenfalls in der Schublade lag, und ließ sich wieder im Sessel nieder, vergaß nicht das Gewand zu lüpfen und zögernd öffneten sich die Knie. Auch die anderen Mädchen begannen sich zu beschäftigen, Jasmin und Isabel schrieben Briefe, Claudia las in einem Buch, Maria entnahm ihrer Schublade einen Zeichenblock und Farbstifte, auch das offenbar eine Gabe der großherzigen Herrin.
Nach kurzem Überlegen begann Silvia mit dem ersten Eintrag ins „Buch des Mädchens“, wie es zu nennen sie bereit war. Gleichmäßig floss die blaue Tinte aus der Feder, es war ein guter Füller, den man ihr da überließ, und überquellend sprudelten die Gedanken. Sie hatte viel erlebt in den letzten Stunden, mehr als in drei Jahren Ehe, und es waren Dinge, die sich tief in ihre Seele gruben, die das Leben grundlegend änderten, die unbekannte, aufregende Gefühle weckten. – Aber halt! Das Maß ihrer Erniedrigung sprengte alle Dimensionen, es gab wahrlich keinen Grund, sich plötzlich gut zu fühlen, wie von einer schweren Last befreit, nein, müsste sie nicht eigentlich bitterlich klagen und ihr hartes Los bedauern?
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster in den Park. Es war eine prachtvolle Anlage mit schnurgeraden kiesbestreuten Wegen, sorgsam gepflegten Blumenrabatten und nicht weit vom Haus entfernt einem Springbrunnen mit überlebensgroßer Figurengruppe. Drei verwegen dreinblickende muskulöse Männer schleppten nackte Frauen mit sich fort. Einer hatte sich seine Beute über die Achsel geworfen wie einen Mehlsack, einer hielt sie mit beiden Armen umschlungen und hob sie hoch, sodass ihre Füße in der Luft strampelten, der Dritte hielt sie an der Hand und zeigte in die Ferne, versprach ihr wohl eine große Zukunft. Offenbar sollte die Gruppe den Raub der Sabinerinnen symbolisieren, passend zum Haus, oder doch nicht, da die Mädchen hier ihrem Mann nicht geraubt, sondern von ihm geschickt wurden, wie verschleppt konnten sie sich allerdings tatsächlich fühlen.
Die Gedanken schweiften zurück zum Daheim. Auch dort hatte sie vor dem Fenster ihr Tagebuch geschrieben. Allerdings richtig bekleidet und nicht in solch obszöner Stellung, auch nicht unter den Augen eines Aufsehers, nein, niemals hätte sie so etwas für möglich gehalten. – Aber hätte man sie gefragt, wo sie sich jetzt lieber befände, dort im heimischen Wohnzimmer oder hier in dieser sonderbaren Lage, fiele die Antwort nicht eindeutig wie erwartet aus, vielleicht müsste sie sich ihrer gar schämen. Zum Glück aber fragte man nach ihrem Wollen nicht, ließ ihr keine andere Wahl, als sich in ihr Schicksal zu fügen.
Ob es den anderen Mädchen ebenso ging, die ja eigentlich Frauen waren, zu Mädchen durch den Willen ihrer Männer geworden, die man Gebieter nannte, eine Bezeichnung, die unendliche Demütigung barg, nicht für die Gebieter natürlich, sondern für ihre Sklavinnen. Ob auch sie sich mehr als nur arrangierten, ob es auch in ihnen diesen unbegreiflichen Reiz an ihrer Rolle gab? Kaum konnte Silvia es glauben, eher dachte sie allein zu sein mit ihren seltsamen Gefühlen, eine Schande für ihr ganzes Geschlecht. Mit einem schweren Seufzen klappte sie das Tagebuch zu. Drei der blütenweißen Seiten waren vollgeschrieben und sie fragte sich bangen Herzens, was sie ihm noch alles anvertraut würde in der kommenden Zeit. Sicherlich würde es das merkwürdigste aller ihrer Bücher werden.
Kurz vor halb elf Uhr räumten die Mädchen ihre angefangenen Briefe, die Bücher und Zeichenutensilien weg, ohne dass man sie dazu auffordern musste. Silvia folgte ihrem Beispiel, verstaute das Tagebuch und das Buch der Regeln in ihrer Schublade. Blieb nur zu hoffen, dass tatsächlich niemand darin kramte und man nicht ihre Seele ebenso wie ihren Leib entblößte. Als die Uhr halb schlug mit ihrem tiefen warmen Gong, standen die Mädchen parat, um ihrem Aufseher in den Korridor zu folgen wie Schafe dem Hirten. Er führte sie zur Eingangshalle und dort die Treppe hinab ins Untergeschoss. Hier unten gab es keinen Flur, sie gelangten direkt in einen kleinen Raum und durch eine massive Eichentür in den sogenannten „Mädchenraum“.
Silvia stockte der Atem. Versteckt angebrachte Lampen beleuchteten mit rotem Schummerlicht eine Art Krypta mit mächtigen Säulen und romanischen Bögen. Ein dunkelroter Teppich bedeckte den Boden und rot tapeziert waren die Gewölbe zwischen den weiß gekalkten Rippen. Es gab sechs Zellen, geräumige rechteckige Käfige mit soliden Gitterstäben, jeder vom anderen getrennt und auch ein Stück von der Wand entfernt, sodass man rundum gehen konnte. In jeder Zelle gab es eine Pritsche mit einem schwarzen Laken und einer dünnen schwarzen Decke, mehr nicht, und über jeder Gittertür hing ein Schild mit dem kunstvoll geschriebenen Namen der „Bewohnerin“.
Mitten im Raum hing von einem Flaschenzug an der Decke eine dicke Kette herab und eine Sammlung weiterer Ketten baumelte an der Wand von einer metallenen Schiene. Darüber dräute an zwei Haken eine lederne Peitsche mit kurzem, gedrungenem Griff. In einer Ecke stand eine schwarze Kommode, davor ein Tisch mit sechs Stühlen, und in der Nähe des Eingangs gab es einen weiteren, kleineren Tisch mit zwei Sesseln. Ratten und Spinnen waren keine zu sehen, auch war die Luft nicht feucht und klamm, sondern warm und trocken, trotzdem aber war dieses Gewölbe ein Kerker, ein Verlies ohne Fenster, angefüllt mit Furcht.
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