Ein harmloses Spiel, wie von ihm behauptet, war das jedenfalls nicht, mit klammen Herzen musste sie begreifen, dass er sie tatsächlich und allen Ernstes zu seiner Sklavin abrichten ließ, vielleicht für immer und alle Zeiten, unwiderruflich? Aber war sie nicht die ganze Zeit schon von ihm abhängig gewesen, angewiesen auf sein Geld und seiner Dominanz unterworfen, hatte er nicht die Entscheidungen getroffen und sie sich gefügt, von Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten abgesehen? Wurde nun das heimlich Vorhandene so unverschleiert wie ihr Körper gezeigt? Es wird dir nichts geschehen, was du dir nicht im Grunde deines Herzens wünschst. Sollte diese Behauptung etwa noch viel wahrer sein, als sie ahnte?
Die schwere Eingangstür wurde geöffnet, langsam, als leiste sie Widerstand, und müde Schritte schlurften herein. Im nächsten Moment ging die gelbe Sonne der Deckenbeleuchtung auf, wurde es Tag von einer Sekunde auf die anderen. Der dunkelhaarige Aufseher stand im Raum, bekleidet mit der Kluft von gestern.
„Hallo, Mädchen, aufwachen“, sagte er mit brüchiger Stimme, konnte lauter mit dem Schlüsselbund klappern als sprechen. Entweder hatte er eine harte Nacht gehabt oder klang seine Stimme von Natur aus wie die eines verkaterten Trinkers, auch das sollte es ja geben, sinnierte Silvia, während er eine Zellentür nach der andern aufschloss. Dann stand er vor ihrem Käfig und blickte erstaunt in ihre klaren Augen. „Ach, du bist schon wach?“
„Ja. Schon eine ganze Zeit.“
Er schaute sie tadelnd an, als habe er sie bei einem unverzeihlichen Vergehen ertappt, gleich aber winkte er ab, als fehle ihm die Kraft für einen Verweis oder Schlimmeres. „Na ja, du bist neu hier … aber du weißt, wie die richtige Antwort lautet?“
„Oh, ich hatte vergessen“, hauchte sie betreten.
„Das nächste Mal lasse ich es dir nicht mehr durchgehen, merk dir das!“ Natürlich war er mahnend erhoben, der Zeigefinger.
„Ja, mein Behüter, ich merke es mir.“ Das war nun endlich die richtige Sprache, sie brachte ihr ein lobendes Nicken ein. Der Aufseher steckte den Schlüssel ins Schloss ihrer Zellentür und drehte ihn mit sanfter Hand. Ob er in diesem Moment das Gleiche wie Silvia dachte? Sie schämte sich ihrer obszönen Fantasie, begegnete seinem dunklen Blick, senkte die Lider und hörte sein verwirrtes Räuspern, dann ging er weiter.
Verschlafen trotteten die Mädchen aus ihren Käfigen. Isabel rieb sich die Augen wie ein müdes Kind, Claudia gähnte mit offenem Mund, Maria seufzte schwer, da ihr anscheinend einfiel, was dieser Tag ihr bringen würde, und Jasmin, die noch gar nichts sah, hätte um ein Haar mit dem Ellbogen den Poformer von der Ablage gewischt. Ganz am Rande der kleinen Plattform kam er zum Stehen und vorsichtig rückte sie ihn zurecht. Nur Silvia befand sich im Vollbesitz der Sinne, was kein Vorteil war.
Sie gingen zur Toilette, ließen sich auf den Bidets nieder, nahmen eine Dusche. Die Hemdchen landeten im Wäschekorb und einer der beiden Jungs für alles verteilte frische Kleidung. Es waren keine langen Gewänder, sondern … Silvia wusste nicht, wie sie diese spitzenbesetzte Nichtigkeit nennen sollte, die dunkelblau war und natürlich durchsichtig. Sie reichte knapp bis zur Taille, ein Träger schlang sich um den Nacken und zwei Bänder wurden am unverhüllten Rücken zu einer Schlaufe gebunden. Eine Art Schürze war es wohl, aber eine, die man nirgendwo anders als hier tragen konnte. Durch die großen Maschen des Netzgewebes lugten die Knospen hindurch. Zum Glück verbreitete die Bodenheizung angenehme Wärme, ein Frösteln gab es nicht auf der Haut, nur in der Seele.
Zum dunklen Blau der Schürze wurden schwarze Stöckelschuhe getragen. Diese gab es im Mädchenraum in der schwarzen Kommode, die sich als Schuhschrank entpuppte. Auch sie war in sechs Fächer unterteilt und hielt für jedes Mädchen weiße, schwarze und rote Schuhe bereit, alle mit hohen dünnen Absätzen.
Es duftete nach Kaffee und frischen Brötchen, der Tisch war reichlich gedeckt, fast wie für Prinzessinnen, es wunderte Silvia sehr, so schlecht wie befürchtet wurden sie also gar nicht behandelt. Während sie sich labten an Croissants, an Milch und Honig, Schinken und Käse, Früchten und Saft, saß der Aufseher abseits an seinem Aufsehertisch und rührte gedankenverloren in seinem schwarzen Kaffee. Traurig sah er aus, aber das war ja kein Wunder. Den ganzen Tag von hübschen, aufreizend zurechtgemachten, fügsamen, weder schnippischen noch zickigen Mädchen umgeben und trotzdem in ausgeschlossener Einsamkeit verloren, das war ein hartes Los. Es musste ein merkwürdiger Job sein für einen Mann, sofern er nicht durch und durch schwul war, eine nicht enden wollende Übung in Enthaltsamkeit, die reinste Tantalusqual. Ob er wenigstens gut bezahlt wurde?
Doch war zu viel Mitgefühl für einen Kerkermeister nicht angemessen, auch nicht für einen traurig dreinblickenden. Vielleicht war er auch gar nicht traurig, sondern tatsächlich nur verkatert, vielleicht auch in sich versunken, sinnierend – gar sensibel? Nein, unmöglich, denn dann wäre er nicht hier! Stark war sein Bartwuchs, auch frisch rasiert, wie er war, wurde sein Gesicht von einem dunklen Schatten überzogen, voll waren die Lippen, etwas krumm stach die Nase hervor, ein bisschen phlegmatisch war der Blick seiner dunklen Augen. Ebenso wie sein Kollege war er noch relativ jung, dreißig vielleicht oder knapp darüber.
Wie er zu diesem Job hier wohl kam, der doch kaum Perspektiven für die Zukunft und keine Aufstiegschancen bot, höchstens zum Oberaufseher vielleicht, falls es einen solchen gab? Ein abgebrochenes Jurastudium hätte Silvia ihm zugetraut, vielleicht gehörte er aber auch zur Heerschar der erfolglosen Künstler, die auf irgendeine Weise ein bisschen Geld nebenher verdienen mussten. Er bemerkte ihren Blick, seine Miene straffte sich, als müsse er Autorität beweisen. Silvia senkte die Lider, wie es sich hier gehörte für ein Mädchen wie sie.
Jasmin fragte, ob sie noch Kaffee wolle, und schüttelte fast unmerklich den Kopf, tadelnd fast, wie es Silvia schien, aber wahrscheinlich täuschte sie sich. Während sie die Tasse hochhielt und sich noch ein Schlückchen einschenken ließ, mahnte Claudia besorgt, dass sie mit dem Lernen der Regeln bald anfangen solle, da schneller Donnerstag sei, als sie denke. Und es sei sehr ratsam, sie zu kennen, fügte Maria bekümmert hinzu. Wenn sie wolle, könne man ihr helfen.
Natürlich hatte Silvia dagegen nichts einzuwenden und Claudia fragte, ob sie die Regel sechs kenne. Silvia kannte sie nicht, woher auch, hatte das Werk ja nur einmal kurz überflogen.
Es war Isabel, die den Text rezitierte: „Jede eigenständige Kontaktaufnahme gleich in welcher Form mit den Behütern ist den Mädchen nicht gestattet.“
Ach, so war das! Hatte sie den Aufseher etwa so offensichtlich angestarrt, dass sie alle es bemerkten? Sie zupfte sich verlegen am Ohr und versprach zerknirscht, ab sofort mit dem Lernen der Regeln zu beginnen.
Ab sofort bedeutete allerdings nicht jetzt sofort, denn vor dem Lernen der Regeln galt es sie zu befolgen, was zwar unlogisch war, in der Gruppe aber durchaus praktizierbar, sie musste ja nur tun, was alle taten. Aufgescheucht von ihrem Behüter, in den plötzlich Leben einkehrte, erhoben sie sich vom Tisch. Jasmin, die als „Helferin des Tages“ fungierte, öffnete neben der Kommode eine versteckt eingelassene Tür, die in eine kleine Kammer führte. Diese beherbergte Putzutensilien wie Besen, Kehrbleche, Wischeimer und andere Dinge, zum Beispiel runde schwarze Blechdosen, die aussahen, als enthielten sie Schuhcreme. Aber nein, diese Vermutung Silvias war falsch. Creme war es schon, aber nicht für Schuhe, sie war farblos und diente besserer Gleitfähigkeit, so stand auf dem Deckel geschrieben. Oh. Der erste der Belagerer setzte zur Eroberung an!
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