„Diese große Stadt lag auf dem Schnittpunkt der alten Karawanenrouten“, erklärte Shakti. Das belebte Doff, der beinah eingedöst war, und er sah sich schon auf einem Kamel ins Gebirge reiten.
„Auf dem alten Basar“, plapperte er vor sich hin, „da war ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet. War das ein Beduine?“
Die Brüder sahen den aufgeregten rothaarigen Jungen erstaunt an. „Auf welchem alten Basar?“, fragte Bhakti vorsichtig, bevor er hinzufügte: „Hier gibt es keinen alten Basar.“
Obwohl Larry ihn schon in die Seite boxte, war Doff nicht mehr zu bremsen. „Der Schlangenbeschwörer“, platzte er heraus, „und der Mann mit den Silber...“, da legte Troy ihm die Hand auf den Arm und Doff hielt verwirrt inne.
„Es gibt hier keine Schlangenbeschwörer“, sagte Bhakti nach einigem Zögern, während sein Bruder, wie Mary auffiel, seine Augen wieder aufmerksam auf Troy geheftet hatte, der diesen Blick ruhig erwiderte. Dann nickte Bhakti, als ob er gerade etwas verstanden hätte.
„Es ist schon spät“, sagte Troy und stand auf. „Wir müssen morgen früh aufbrechen.“
Mary zog den immer noch verdatterten Doff hoch. Sie bedankten sich bei den Brüdern für das Abendessen, und die beiden versprachen, sie am nächsten Morgen pünktlich um sechs Uhr abzuholen.
Als die Gruppe den Raum verlassen hatte, flüsterte Bhakti seinem Bruder zu: „Ich hab’s dir ja gesagt ...“
Shakti strich sich nachdenklich über den Bart und murmelte: „Wir werden sehen ...“ Er sah seinem Bruder in die Augen und beide lächelten.
Mary stand in ihrem Zimmer am offenen Fenster, lauschte dem Pulsieren dieser fremden Stadt und atmete die kühle Nachtluft ein. Über Bhaktis Worte, die keinen Sinn ergaben, weil sie den Basar und den Schlangenbeschwörer tatsächlich gesehen hatten, war Mary ebenso verwirrt gewesen wie Doff, das Plappermaul. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, was Larry ihr, bevor sie in ihre Zimmer gingen, zugeflüstert hatte: „Du bist nicht allein Mary. Ich bin ja bei dir und Doff. Und, na ja, Troy ja auch.“
Mary setzte sich an den Tisch, nahm ein Stück Papier und einen Kugelschreiber und begann rasch zu schreiben.
Liebe Oma Laura,
es tut mir wirklich leid, dass ich Dir nicht erzählen konnte, wohin ich mit Larry, Doff und Troy, den Du noch nicht kennst, gereist bin. Ich musste es tun, weil diese Reise wirklich wichtig ist, nicht nur für mich, sondern für uns alle.
Mach Dir keine Sorgen, denn wir werden geführt und sind gut beschützt. Bitte sei mir nicht böse! Wir kommen sicher wieder gesund nach Hause. Sobald ich kann, melde ich mich wieder. Ich hab Dich sehr lieb!
Deine Mary
P.S.: Ich vermisse Dich.
P.P.S.: Wie geht’s Dir mit Murphy?
Sie faltete das Papier zusammen, schob es in ein Kuvert und schrieb Lauras Adresse darauf. Sie wollte den Brief morgen in Islamabad aufgeben. Dann löschte Mary das Licht und ging zu Bett.
Doff hat einen wichtigen Traum
Die nächsten Tage verliefen eher ereignislos. Während sie der Industalstraße nordwärts folgten, rückten die beeindruckenden Bergketten, die ihr Ziel waren, immer näher. Mary, Larry und Doff gewöhnten sich an die vielen neuen Eindrücke. Sie ermüdeten jedoch rasch, was nicht zuletzt daran lag, dass Troy jeden Morgen vor dem Frühstück auf einem Lauftraining bestand. Mary und Larry hatten keine Probleme damit, aber Doff, dessen Leitsatz „Sport ist Mord“ war, keuchte und stöhnte so lange, bis Troy zu ihm sagte: „Kopf hoch, mein Freund. Du bist viel zäher, als du glaubst.“
Bhakti und Shakti schlugen jeden Abend ihr Lager abseits der Straße auf. Zuallererst servierten sie den vier Reisenden einen süßen Milchtee, dann machten sie Feuer und bereiteten das Abendessen zu. Die drei Freunde gewöhnten sich bald daran, sich mit kaltem Wasser zu waschen, das aus Kanistern kam, bevor sie sich ans Feuer setzten, um mit Troy zu meditieren. Doff, der erwartete, dasselbe Knistern zu hören wie in Marys Haus, war zuerst enttäuscht, als dem nicht so war. Doch dann spürte er die Kraft und die Ruhe, die von Troy ausging, und wurde still.
Gleich am ersten Abend hatte Troy ihnen einfache weiße Hemden und Jeans in jeweils passender Größe und ein großes, warmes Umhängetuch aus Schafswolle gegeben. „Aha“, hatte Mary gedacht, „das geheimnisvolle Päckchen!“
Mary hatte sich schweren Herzens von ihrem schönen himmelblauen Kaftan getrennt. Aber sie musste zugeben, dass es nicht die richtige Kleidung war für eine tagelange Autoreise. Doff verzichtete nur ungern auf sein buntes Hemd. Abends jedoch war er dankbar für die langen Hosen. Am Tage, wenn es heiß war, kühlte sie der Fahrtwind, aber die Nächte waren klar und sehr kalt. Nach dem Abendessen hüllten sie sich also in ihre Tücher ein. Über ihnen sah man nach und nach immer mehr Sterne aufleuchten. Und als es ganz dunkel war, holte Larry aus seinem Notfallbeutel, dessen Inhalt er selbst zusammengestellt hatte, eine Taschenlampe und Bhakti und Shakti setzten sich zu ihnen. Jeden Abend las Larry eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht vor. Troy hatte ihn dazu ermuntert. Ob die Geschichten, die Scheherezade dem Fürsten erzählt, um dem sicheren Tod zu entgehen, von Königen oder Bettlern handelten, von Dieben oder Heiligen, Liebe, Hass oder Rachsucht, sie brachten den Zuhörern den Zauber des Orients nahe. Danach kuschelten sie sich in ihre warmen Schlafsäcke und schliefen sofort ein.
In Shaktis Jeep wurde ihre Ausrüstung transportiert und die drei Freunde und Troy fuhren mit Bhakti, der sie darauf aufmerksam machte, dass sie sich nun in der Nordwestprovinz befanden. Von hier aus bahnte sich der Indus sein Bett. Inzwischen waren sie tief in die Gebirgswelt vorgedrungen. Die Straße stieg steil an und überall ragten kahle Bergriesen empor. Am Hang eines besonders steilen Berges klebte Besham, eine kleine Stadt, die nahe am Indus liegt. Es war viel kälter geworden und die Menschen, die sie hin und wieder am Straßenrand beobachten konnten, hatten sich wie sie selbst in ihre warmen Umhänge gehüllt.
„Wann kommt denn endlich die Karawanenstraße?“, fragte Doff ungeduldig. Mary lächelte in sich hinein, und Larry, der sich ausmalen konnte, was in Doffs Kopf vorging, kicherte.
„Wir sind schon mitten drauf“, sagte er.
„Was?!“, rief Doff entsetzt, der nirgendwo Kamele entdecken konnte, nur Autos und Lastwagen, die ihnen voll beladen entgegenkamen.
Liebevoll stupste Larry Doff in die Seite, bevor er trocken, wie es seine Art war, erklärte: „Diese Karawanenstraße ist eine der höchst gelegenen asphaltierten Straßen der Welt.“
Troy beugte sich zu Doff herab und zwinkerte ihm zu. „Warte nur ab, Doff, bis wir jenseits des Khyber-Passes sind.“
„Was passiert dann?“, erkundigte Doff sich neugierig.
„Dort erwartet dich dein erstes Abenteuer“, sagte Troy ernsthaft, und Doff machte große Augen.
„Versprochen?“, fragte er, und Troy, der im Rückspiegel Bhaktis Blick auf sich ruhen sah, nickte: „Versprochen!“
„Zuerst müssen wir allerdings nach Peshawar, um neue Vorräte zu besorgen“, warf Bhakti ein.
„Ist das noch weit?“, wollte Doff wissen.
„Nur noch fünfzig Kilometer“, beruhigte ihn Troy. „Das ist eine faszinierende Stadt. Sie wird dir gefallen“, versprach er und damit musste Doff sich zufriedengeben.
Mary sah Troy von der Seite an. Als er den Pass erwähnte, war etwas in seinen Worten mitgeschwungen, das sie nachdenklich machte. Auch Bhakti hatte das bemerkt, und Mary dachte, dass dieser Pass eine besondere Bedeutung haben müsse. Sie hätte Troy gern gefragt, tat es jedoch nicht. Bisher wusste nur sie, dass Troy ein Zeitreisender war. Shakti ahnte allerdings etwas, dessen war sich Mary sicher.
Als sie Peshawar erreichten, sagte Bhakti stolz: „Hier befinden wir uns am Schnittpunkt der alten Karawanenwege.“ Doff starrte ungläubig auf die in einem breiten Becken vor ihnen liegende riesig große Stadt. „Von hier aus sind es nur noch fünfzig Kilometer zum Khyber-Pass.“ Diese Information war für Doff bestimmt, der schon wieder schmollte.
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