1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Sie nahmen ein Taxi, dessen Fahrer – ein kleiner, untersetzter Mann mit einem prächtigen schwarzen Bart – sofort einen Schwall unverständlicher Wörter auf sie losließ. Zu ihrer Überraschung unterhielt Troy sich mit ihm in der Landessprache, was Mary, Larry und Doff ein Gefühl der Sicherheit gab. Ein zäher Verkehrsstrom ergoss sich über ein weitläufiges Straßennetz. Sie fuhren an Grünflächen mit modernen Wohnhäusern und an einem See vorüber und tauchten in Straßenschluchten mit Wolkenkratzern und Bürogebäuden ein.
„Ist das zu fassen?!“, rief Doff enttäuscht. „Hier sieht es ja genauso aus wie in London!“
Larry schien plötzlich aus seiner Starre zu erwachen.
„Wo sind wir?“, fragte er dermaßen erstaunt, dass Mary hell auflachte.
Dann schien sich Larry, der beinah den ganzen Flug verschlafen hatte, zu erinnern. Plötzlich ganz der Alte, holte er tief Luft, und Mary, die Schlimmes ahnte, kicherte in sich hinein. Da ging es auch schon los: „Islamabad ist eine planmäßig angelegte Stadt am Nordrand des Potwar-Plateaus. Berühmt ist diese Stadt für ihre prächtigen Moscheen und Paläste und ihre vielen Gärten.“
Doff verdrehte die Augen, doch Larry war noch nicht fertig.
„Das Potwar-Plateau wird im Norden von den Bergketten des Himalaja begrenzt und im Westen von Indus.“
„Das reicht!“, maulte Doff, während Mary dachte, dass ein beinah fotografisches Gedächtnis nicht immer ein Segen sei. Und wie üblich, setzte Larry noch eins drauf: „Die Landessprache ist Pandschabi, das auch in Nordindien gesprochen wird.“
„Danke für den Unterricht, Larry“, schaltete Troy sich lachend ein. „Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass wir uns in Südasien befinden, im ehemaligen Gebiet West-Pakistan im Nordwesten des indischen Subkontinents. Außer an Indien im Osten und Südosten grenzt Pakistan im Nordosten an China, im Nordwes -ten an Afghanistan beziehungsweise den Iran und im Süden an das Arabische Meer.“
„Wo müssen wir hin?“, erkundigte sich Mary.
„In den Norden“, antwortete Troy. „Genauer gesagt in den westlichen Pandschab.“
„Nicht ins Industal?“, fragte Mary enttäuscht.
„Doch“, antwortete Troy. „Rawalpindi ist unser Ausgangspunkt.“
Mary dachte an einen wunderbar weichen Pullover ihrer Mutter und erkundigte sich: „Kommt da die Kaschmirwolle her?“
„Ja“, bestätigte Troy, „sie stammt von den berühmten Kaschmirziegen.“
Eine Weile schwiegen alle. Sie fuhren gerade durch eine belebte Geschäftsstraße, der Verkehr kam beinah zum Erliegen, und ein heftiges Hupkonzert setzte ein. Abgesehen von den vielen, für sie fremdländisch wirkenden Passanten, schien Islamabad eine moderne Großstadt wie jede andere zu sein. Vielleicht hupte man hier öfter, aber der Lärm und der Gestank waren der Gleiche. Außerdem war es sehr heiß.
„Wie hoch sind wir hier denn?“, erkundigte sich Larry bei Troy.
„Ungefähr fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel. Derzeit ist es hier noch relativ kühl. Am heißesten wird es im Juni.“
Doff, der an ihre Ausrüstung dachte, hatte andere Sorgen. „Wir müssen ins Gebirge?“, erkundigte er sich so zaghaft, dass Troy lachen musste.
„Beinahe die Hälfte dieses Landes besteht aus Gebirgen, Doff. Die andere Hälfte machen Wüsten aus, doch die liegen im Süden und da kommen wir nicht hin. Unser erstes Ziel ist das Hunzatal ganz oben im Norden. Dann werden wir weitersehen.“
„Wo liegt dieses Tal denn?“, fragte Mary.
Troy gab bereitwillig Auskunft: „Im Karakorum sowie im Nordwesten des Himalaja.“
„Wow!“, rief Larry, der seine Hausaufgaben gemacht hatte. „Da liegt doch der K2, hab ich recht? Das ist einer der höchsten Berge der Erde!“
Doff schnaubte so laut, dass Troy auflachte.
„Wir bleiben auf jedem Fall in Pakistan. Das Hunzatal ist übrigens sehr schön, sehr fruchtbar und grün. Außerdem kommen wir durch sehr alte und geheimnisvolle Wälder.“
„Gibt es da Trolle und Waldgeister?“, fragte Doff interessiert und ignorierte Larry, der ihn in die Seite boxte.
Troy sagte nur: „Ihr werdet vielem begegnen, was eure kühnsten Vorstellungen übertreffen wird.“
Mit seinen abstehenden roten Haaren und der geröteten Knollennase sah Doff selbst wie ein Troll aus. „Du weißt doch genau, wo wir hinmüssen, oder?“, erkundigte er sich besorgt, aber Troy antwortete nur: „Wir werden es wissen, wenn wir im Hunzatal sind.“
Mary versuchte vergeblich, sich zu erinnern, was ihre Eltern ihr über die geheimnisvolle Kultur der Hindus in Indien erzählt hatten. Sie fragte Troy, der bestätigend nickte.
„Gleich morgen kommen wir an einer Ausgrabungsstelle vorüber. Der Ort, der Taxila heißt, war vor 1550 Jahren das letzte Zentrum der Induskultur. Die Menschen dieser Kultur meditierten schon vor 5500 Jahren im Yoga-Sitz. Sie waren geistige Krieger und besaßen ein großes spirituelles Wissen. Wenn sie an einen bestimmten Ort wollten, dachten sie an ihn und schon waren sie dort. Dann schloss sich das Dritte Auge der Menschen und seither können sie nur noch das sehen, was sich unmittelbar vor ihnen befindet.“
„Warst du damals schon da?“, fragte Doff treuherzig, was ihm einen neuen Rippenstoß von Larry eintrug.
Troy schwieg, doch Doff ließ nicht locker. Er fragte allen Ernstes, ob sie zu Fuß gehen würden. Diesmal verdrehte Larry die Augen, aber Troy erklärte geduldig, dass sie einen Wagen mieten würden, mit dem sie den größten Teil der Strecke zurücklegen könnten. „Den einen oder anderen Muskelkater wirst du schon in Kauf nehmen müssen, Doff.“
Er versicherte ihnen, sie würden genügend Zeit haben, sich auf die Bedingungen im Gebirge einzustellen, und damit war die Fragestunde beendet. Troy hob die Hand und ihr Taxi blieb stehen.
„Endstation“, sagte er, öffnete die Tür und half Mary beim Aussteigen.
Während Troy den Fahrer bezahlte, sahen sich die drei überrascht um. Die lange Fahrtzeit war so rasch vergangen, und es war ihnen gar nicht aufgefallen, dass sie sich bereits in einem völlig anderen Stadtteil von Islamabad befanden.
„Seht nur, ein Markt!“, rief Mary.
Larry und Doff erhaschten nur einen kurzen Blick auf das bunte Gewimmel am Ende einer kleinen und engen Straße, die sich zu einem weiten Platz öffnete.
„Den besuchen wir später“, sagte Troy und schob sie zu einem kleinen Gebäude, dessen Fensterläden zur Straße hin geschlossen waren.
„Eine Jugendherberge“, sagte Larry und deutete auf die mehrsprachige Tafel neben der Eingangstür.
„Ist dir das exotisch genug?“, blinzelte Mary Doff zu, nachdem sie die Eingangshalle betreten hatten.
„Das ist Zedernholz“, flüstere Larry, der die Läden bewunderte, in die Formen geschnitzt waren, durch die das Tageslicht fiel und so Rauten und Sterne auf Wände und Boden zauberte.
Troy unterhielt sich an der Rezeption mit einem hageren, bärtigen Mann, der einen blauen Turban trug. Er sah aus wie ein Inder, hatte aber eine Hakennase.
„Ich glaube, er ist ein Sufi“, flüsterte Larry Doff zu, der ihn fragte, was das sei. „Ein arabischer Mystiker“, erklärte Larry leise, als der wache Blick des Mannes auf sie fiel. Er wirkte zwar freundlich, allerdings auch sehr bestimmt, und Larry verstummte.
Troy brachte sie in den ersten Stock und wies ihnen ihre Zimmer zu. Mary und er selbst hatten je eines für sich, Larry und Doff schliefen in einem Raum. Zu ihrer Erleichterung sahen sie, dass die Fenster ihrer Zimmer auf einen kleinen, schattigen Innenhof hinausgingen. In den kleinen Räumen, in denen es nur Holzbetten, einen Tisch, zwei Sessel und ein Waschbecken gab, war es angenehm kühl.
„Ihr seid bestimmt hungrig“, sagte Troy. „Ruht euch eine Stunde aus und dann essen wir einen Happen und gehen anschließend auf den Markt.“
Читать дальше