Damit waren alle einverstanden, besonders Doff, dem schon jetzt der Magen knurrte, aber sie waren auch sehr erschöpft und so versanken die drei Freunde schon bald in einen kurzen Schlaf, der jedem einen Traum schenkte.
Mary träumte von ihren Eltern. Sie waren lebendig und wieder doch nicht und sahen genauso aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Hand in Hand kamen sie auf Mary zu, die auf einer Waldlichtung stand. Es war kein gewöhnlicher Wald, denn jeder dieser Bäume hatte ein Gesicht, das ihr zulächelte. Eine leichte Brise ließ ihre Zweige tanzen, wodurch ihr die Blätter zuwinkten. Marys Mutter lächelte. In der Hand hielt sie ein Kästchen, das sie Mary reichte.
„Darin befindet sich ein Schlüssel“, hörte sie ihren Vater sagen.
„Du darfst ihn erst verwenden, wenn du weißt, wofür der Schüssel ist“, sagte ihre Mutter und strich Mary zärtlich übers Haar.
Dann verschwanden ihre Eltern und der Wald war ebenfalls nicht mehr zu sehen. Mary blieb allein mit dem Kästchen zurück, das sie an ihr Herz drückte, worin sie es in Gedanken verwahrte.
Auch Larry träumte von einem Wald, in dem er etwas suchte, es jedoch nicht fand. Er kam an großen, mit Moos bewachsenen Steinen vorüber, die ihm etwas in einer Sprache sagen wollten, die er nicht verstand. Einmal glaubte er, in einem Schatten seine Mutter zu erkennen. Sie öffnete den Mund und rief etwas, aber ein starker Wind verwehte ihre Worte. Larry war sich nicht sicher, ob seine Mutter lachte oder weinte. Er hatte das Bedürfnis, sie zu trösten.
Hinter ihm raschelte es. Aus einem Dornbusch trat ein sehr alter Mann mit einem sehr langen, weißen Bart, der ihm zuwinkte und ihm bedeutete, ihm zu folgen. Larry gehorchte und fand sich in einer Höhle wieder, in der große Kristalle von der Decke herabwuchsen. Der Alte hockte sich auf den Boden.
„Du bist jetzt mein Schüler“, sagte er und Larry setzte sich zu ihm und lauschte seinen weisen Worten.
Und Doff träumte, dass sich eine Fee auf seiner Nasenspitze niedergelassen hatte, die ihn an den Ohren kitzelte. Er lag auf dem Rücken im Gras und konnte sich nicht bewegen. Das war schlimm für ihn, weil vor seiner Nase eine Marzipanpraline baumelte, die ein Troll auf dem Haken an einer Angelschnur aufgespießt hatte. Er wollte etwas sagen, aber die Fee legte den Finger auf die Lippen. Sie sah aus wie Mary, nur viel kleiner.
Plötzlich sah Doff sich auf einem Diwan liegen. Er war hungrig und durstig. Um ihn herum standen auf kleinen Tischchen Leckereien und Kannen mit süßen Säften, doch er konnte sie nicht erreichen. Da öffnete sich die Tür und seine vier Geschwister sprangen herein. Sie herzten und küssten ihn und gaben ihm zu essen und zu trinken, worüber die kleine Fee ebenso froh war wie er selbst.
Alle drei wachten sie wie auf ein inneres Kommando hin gleichzeitig auf und da klopfte auch schon Troy an ihre Türen. In dem kleinen Frühstücksraum neben der Rezeption aßen sie Fladenbrot, Käse und Obst. Seltsamerweise waren sie nicht mehr sehr hungrig, nicht einmal Doff.
„Ich hab geträumt!“, rief Doff.
„Ich auch“, sagten Mary und Larry wie aus einem Mund.
„Ich kann mich allerdings nicht mehr an meinen Traum erinnern“, fügte Doff hinzu.
„Das tust du doch nie“, neckte Mary Doff. Doch dann gab sie zu, dass sie sich ebenfalls nicht erinnern konnte, und Larry ging es genauso.
„Wozu sind Träume dann gut?“, fragte Doff Troy.
„Träume sind Geschenke deiner Seele. An deine wichtigen Träume wirst du dich erinnern, wenn es notwendig ist“, sagte Troy und das klang ein wenig geheimnisvoll.
Auch Mary hatte eine Frage: „Sind wir hier die einzigen Gäste?“ Außer dem Mann an der Rezeption hatten sie niemanden gesehen und in der Herberge war es seltsam still. „Zu still“, dachte Mary.
„So hat es den Anschein“, sagte Troy vage und stand auf.
An der Rezeption gaben sie ihre Pässe und Zimmerschlüssel ab. Als sie gut gelaunt auf die Straße hinaustraten, stand die Nachmittagshitze wie eine Wand vor ihnen. Sie hielten sich im Schatten der Häuser und erreichten nach nur wenigen Schritten den Marktplatz. Um Marktstände, die Lebensmittel, Obst und Gemüse anboten, drängten sich Frauen, die Kopfschleier trugen, und Männer mit von Wind und Wetter gegerbter Haut, alle bärtig und mit verschiedenfarbigen Kappen, aber auch Pakistani und Touristen in europäischer Kleidung.
Mary und Troy gingen voraus. Mary hatte ihr blondes glänzendes Haar unter ihrer Schirmmütze verborgen, wodurch sie beinah knabenhaft und jünger wirkte. Dennoch streiften sie hin und wieder verstohlene Männerblicke, was Larry wütend machte. Ihm fiel jedoch auch auf, dass die Blicke der Männer, sobald sie Troys Augen begegneten, seltsam leer wurden ... fast so, als ob ihre Gedanken jäh gelöscht würden.
„Ich bin gut beschützt“, dachte Mary, die eine aufmerksame Beobachterin war. Wie schon am Flughafen lag wieder eine kleine Insel der Ruhe, auf die nicht einmal eine Rasselbande bettelnder Jungen vordringen konnte, um Troy. Aus großen Augen starrten sie den vier Fremden nach, bis sie von der wogende Menge verschluckt wurden. Die ließen gerade den Markt hinter sich und kamen auf eine breite Allee mit hohen blühenden Bäumen.
„Was duftet hier denn so gut?“, fragte Larry, und Troy erklärte ihm: „Das sind besondere Feigenbäume, die nur hier wachsen und bis zu zehn Meter hoch werden.“
„Feigen gab es schon im alten Ägypten.“ Larry wandte sich Doff zu, den Feigen überhaupt nicht interessierten.
„Richtig, Larry“, bestätigte Troy. „In vielen Ländern sagt man der Feige nach, dass sie vor Behexung und dem bösen Blick schützt.“
Und Doff rief: „Und denk mal an das Feigenblatt von Adam und Eva.“
Troy schmunzelte. „Jedenfalls schmeckt sie süß und ist eine begehrte Delikatesse, wenn sie reif ist.“
„Kann man Feigen in Schokolade tunken?“, wollte Doff wissen.
„Nichts ist unmöglich. Halt einfach die Augen offen.“
Doff verdrehte die Augen. Bislang hatte er nichts gesehen, was ihn interessierte. Fortan hielt er aufmerksam nach einschlägigen Geschäften Ausschau. Sie hatten die breite, stark befahrene Straße überquert und tauchten in eine schattige Nebengasse ein. Larry spitzte die Ohren. Er konnte Stimmengewirr hören und das Gackern von Hühnern.
„Wieder ein Markt?“, fragte er.
Troy nickte. „Das ist allerdings kein gewöhnlicher Markt, sondern der älteste Basar der Stadt.“
„Cool!“, flüsterte Doff, und Mary und Larry staunten ebenfalls.
Die Eindrücke – die Farben, die Gerüche und die Geräusche – waren überwältigend. Dies schien endlich ihre Vorstellung von einer orientalischen Stadt zu treffen. Viele Menschen waren auf dem Platz unterwegs und die Gesichter der Männer waren verwegen, die Kleider der Frauen bunt ... und zwischen all diesen Gestalten meckerten Ziegen und blökten Schafe. Fasziniert folgten die drei Troy, vor dem sich, wie Larry auffiel, die Menge wie selbstverständlich teilte. Mary wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Da priesen Händler lautstark lebende Hühner an, dort schnitt ein Barbier in seinem Laden Haare und trimmte Bärte. An den Türläden baumelten blitzende Kupferkessel und Küchenutensilien, kostbare Teppiche und Lederwaren. Im Café tranken Männer Milchtee, spielten Schach oder unterhielten sich. Kleine Gewürzberge in allen Farbschattierungen, vom sandigen Safran bis zum blutroten Chili, verströmten ein betörendes Aroma, das sich mit dem feinen Duft von Rosenwasser und von blühenden Zweigen vermischte, und das Stimmengewirr war ohrenbetäubend laut. Plötzlich war inmitten der wogenden Menge der klagende Ton einer Flöte zu hören. Neugierig folgten die drei Freunde Troy. Wieder teilte sich die Menge vor ihm und gab den Blick auf den Flötenspieler, einen hageren, bärtigen Mann, der einen weißen Turban trug, frei. Zu seinen Füßen stand ein Korb, aus dem sich eine Königskobra aufrichtete, deren Kopf sich rhythmisch hin und her zu wiegen schien.
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