In der Mittagszeit kamen Matuschka und Schwester Lucia und überbrachten eine frohe Nachricht. Es war beschlossen worden, dass unsere Männer auch ins Kloster gebracht werden sollten. Voller Freude küssten wir den Schwestern die Hände.
Nun war zu überlegen, wie das zu bewerkstelligen war. Da wusste meine Schwester Rat. Sie hatte einen Nachbarn, einen frommen Christen, der uns behilflich sein konnte. Er wollte mit Tante Jannina nach Ponar fahren. Sein Name war Wladek.
Jannina brachte ihn zu uns, und wir machten gemeinsam Pläne, wie man die Männer ins Kloster bringen könnte. Herr Wladek sollte am Abend mit dem Fahrrad nach Ponar fahren und bei Frau Kaschiozowa übernachten. Früh am Morgen sollten sie meinen Mann als Bahnarbeiter verkleiden und mit dem Fahrrad ins Kloster bringen. Nachts, während der Sperrstunde, durfte man nicht fahren.
Alles hatte sehr gut geklappt – am nächsten Morgen um 11 Uhr war mein Mann bei mir im Kloster. Unsere Begegnung war für alle so rührend, dass sogar die Schwestern weinten.
Die nächste, viel schwierigere Aufgabe war es, den Mann meiner Schwester herzubringen. Das war eine große Herausforderung. Er arbeitete in einem Werk unter Aufsicht der deutschen Polizei. Dort wurden Verbrennungsstoffe hergestellt.
Er bekam einen Brief von Wladek, darin stand, er solle sich nach der Arbeit im Feld verstecken und nachts versuchen, einen bestimmten Ort im Wald zu erreichen, wo Wladek auf ihn warten wollte. Am nächsten Morgen in der Frühe wollten sie gemeinsam versuchen, das Kloster zu erreichen. Das alles war ein sehr risikoreiches Unternehmen, aber zum Glück ging alles gut. Für einen Mann mit schwarzem Vollbart war es nicht einfach, ins Kloster zu gelangen. Die Stunden, die wir wartend verbrachten, zogen sich sehr schwer hin – jede Minute kam uns wie eine Ewigkeit vor. Damals dachten wir, dass es nicht schlimmer werden könnte, aber es kamen Tage über uns, wo wir an diese Klosterzeit wehmütig zurückdachten.
Wir wohnten zu fünf Personen in einem Zimmer mit zwei Fenstern, die mit Vorhängen verhüllt waren. Zwei eiserne Betten standen darin. Es war ein bisschen wie eine Kaserne, aber für uns war es ein Paradies des Friedens. In der Diele befand sich eine Toilette mit Duschgelegenheit, noch aus der Zeit der Benediktinerschule. Der Winter 1941/42 war sehr kalt, und die Toilette fror häufig zu. Ich hatte das Amt des Installateurs, kochte täglich Wasser auf und goss es in die Toilette, so dass man sie immer benutzen konnte. Überhaupt hatten wir alle unsere Beschäftigungen. Mein Mann und mein Schwager waren mit der Pflege der Bibliothek beschäftigt. Die Bibliothek des Klosters war sehr umfangreich, und viele Bücher waren beschädigt. Diese Arbeit leisteten sie gern, betrachteten sie als Unterhaltung und als Entgelt für den Aufenthalt im Kloster. Meine Schwester beschäftigte sich mit Nähen und flickte die ganze Unterwäsche der Schwestern. Ich strickte sämtliche Jacken und Pullover der Nonnen. Diese Arbeit war angenehm, und wir verbrachten täglich wohl zehn Stunden damit. An den einsamen Abenden saßen wir zusammen und erzählten uns aus unseren Erinnerungen.
Ich erinnere mich, wie mein Mann von der Zeit erzählte, die er allein in dem verlassenen Haus verbracht hatte. Gegen Abend ging er stets zu Frau Kaschiozowa. Sie gab ihm Essen und berichtete, was alles geschehen war. In unserer Zeit in Ponar hatten wir einen Hund gehabt. Beim Verlassen unseres Hauses hatten wir ihn weggegeben. Eines Tages sah mein Mann einen Hund, der ihm jaulend entgegenkam. Es war unser alter Hund. Im Finsteren saßen sie beide zusammen und beide weinten sie. Der Hund ging ihm nach bis zum Haus von Frau Kaschiozowa und wollte nicht von seiner Seite weichen. Die Frau erschrak und sagte, es sei zu gefährlich. Durch den Hund könnte die Gestapo auf seine Spur kommen und auch sie sei dann gefährdet. So musste sie den Hund an einen anderen Ort bringen.
Samek, mein Neffe, lebte in seiner eigenen Welt. Er malte und zeichnete. Die Nonnen waren begeistert, sie verschafften ihm Papier und Farben. Eines der Bilder ist mir in Erinnerung geblieben: es zeigt Jesus nicht als wehmütigen, sondern als zornigen Gott, voller Zorn wegen allem, was auf der Welt geschieht. Die Nonnen hängten dieses Bild im Kloster auf. Es wirkte nicht wie das Werk eines kleinen Jungen, sondern wie das eines fertigen Malers. Die Ruhe im Kloster und die Orgelmusik hatte eine eigenartige Atmosphäre um uns geschaffen, und das kam in seinen Bildern zum Ausdruck. Auch das, was sich draußen, hinter der Kulisse des Klosterfriedens ereignete, hinterließ tiefe Spuren in seinem Herzen.
So lebten wir ein halbes Jahr. Täglich kamen Horror-Nachrichten aus dem Ghetto. Am Jom Kippur ist, wie wir hörten, unsere Mutter und auch die Mutter von Janusch umgekommen. Wir waren ganz verzweifelt, aber wir wagten kein lautes Wort zu sagen.
Eines Tages kam die Oberin Matuschka zu uns und erzählte, dass sie noch vier junge Mädchen aufgenommen habe, die aus dem Ghetto entkommen konnten. Eine davon war Lolka Feldstein, die Tochter eines bekannten Zahnarztes. Die Oberin war sehr ängstlich, sie erzählte, dass die Deutschen neuerdings auch sämtliche Klöster durchsuchten. So kamen wir zu dem Entschluss, uns eine andere Bleibe zu suchen. Jonas und Jascha gingen mit der Oberin, etwas Geeignetes für uns zu finden. Außer den vier erwähnten Nonnen wusste niemand von unserem Verbleib. Was sie alles für uns geleistet haben, können wir nicht genug anerkennen. Sie setzten ihr Leben für uns aufs Spiel und wir konnten ihnen nichts dafür zurückgeben. Die Nahrung war knapp und sie musste für neun Personen reichen. Dreimal am Tag bekamen wir unser Essen, viermal in der Woche sogar mit Fleisch, sonst mit Milch. So waren wir alle satt, wir konnten uns sauber halten, waren warm und geschützt. Auch Aufmerksamkeit und Liebe wurde uns zuteil; jeden Abend kam die Oberin zu uns herein, und wir konnten ihr viel über unser Leben erzählen, von der Zeit vor dem Krieg, unseren Verwandten und allem anderen. An allem war sie sehr interessiert. Außer ihr kam auch manchmal Schwester Lucia. Sie war in ihren mittleren Jahren und sehr schön. Daher fragten wir sie, warum sie ins Kloster gegangen war, und sie erzählte uns, dass dies seit ihrer Kindheit ihr innigster Wunsch gewesen war. Ihre Familie war ganz dagegen und sie musste kämpfen, um ihr Ziel zu erreichen. Ihre ältere Schwester war bereits im Kloster, sie war ihrer Schwester und ihr selbst ein Vorbild. Es war nicht leicht, dieses Ziel zu erreichen, es gehörte eine gewisse Bildung dazu und vor allem eine große Liebe zu Jesus. Drei Jahre musste sie eine strenge Probezeit in einem fremden Kloster durchmachen. Aber sie bestand alle Prüfungen mit Bravour, und der glücklichste Tag in ihrem Leben war der, an dem sie zu ihrer Schwester ins Kloster gehen durfte. Jetzt waren es bereits zehn Jahre, dass sie in diesem Kloster lebte. Wir haben sie bewundert und geliebt, und jeder ihrer Besuche war für uns wie ein Feiertag.
Читать дальше