Am dritten Tag sahen wir ein, dass wir so nicht weiter existieren konnten. Meinem Mann fiel ein, dass neben unserem Haus ein Rohbau stand, dessen Tür- und Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt waren. Dort wären wir, so sagte er, besser vor dem Wetter geschützt und könnten uns nachts in unser Haus schleichen und uns mit Essen versorgen. Auch hofften wir auf Hilfe von Frau Kaschiozowa.
Es dauerte 24 Stunden, bis wir wieder in Ponar ankamen, da wir uns nur nachts bewegen konnten. Wir hatten die Idee, ich sollte zu Tante Jannina gehen, die würde für meinen Mann ein besseres Versteck finden. In der Nacht könnte ich ihn aus dem Haus schaffen. Die anderen hatten auch einen Plan: für Geld und Schmuck sollten die Nachbarn ein Versteck für sie finden.
Allmählich war uns alles gleichgültig. Die Nacht war sehr klar, aber wir gingen trotzdem – wir hatten keine Wahl. Endlich kamen wir an, wir zogen ein paar Bretter zur Seite und waren endlich in dem leeren Haus, wo wir bis zum Morgen blieben. Früh am Morgen gegen 6 Uhr ging ich zur Nachbarin. Sie erschrak sehr, als sie mich sah.
»Lauft weg, nach euch wird gefahndet! Heute Nacht sind welche gekommen und haben nach euch gefragt. Unser Haus haben sie auch beschlagnahmt und sie beschuldigen uns, euch versteckt zu halten.«
Ich erzählte ihr, dass wir im Haus nebenan seien, und dass ich nach Wilna zu meiner Tante gehen wollte, um sie zu bitten, uns ein Versteck zu verschaffen. Ich bat sie, bis zu meiner Rückkehr auf das Haus zu achten. Sie hatte Mitleid mit mir; sie gab mir ein Glas Milch und versprach, nach Kräften zu helfen. Es dürfte nur nicht zu lange dauern, damit ihre Familie nicht in Gefahr käme.
Im Kloster ist kein Platz für Männer
Ich zog ein Kopftuch an und machte mich auf den Weg nach Wilna. Der Weg zog sich in die Länge. Ich hatte Angst vor jedem, der mir begegnete, Angst, dass man mich als Jüdin erkannte. Ich ging zur Wohnung der Tante und hatte wieder Angst, dass ich meiner Tochter begegnen würde und, dass wir uns bei der Begegnung nicht beherrschen könnten.
Zu meinem großen Glück kam die Tante gerade aus dem Haus. Sie erschrak, als sie mich sah, und bat mich, draußen zu warten. Sie ging ins Haus zurück und brachte zuerst meine Tochter zur Nachbarin, damit wir uns auf keinen Fall begegneten.
Im Haus erzählte ich Jannina zuerst, was wir alles durchgemacht hatten. Sie berichtete dagegen, dass sie meine Schwester Mizia und ihren Sohn Samek im Kloster untergebracht hatte. Sie hatte die beiden aus dem Ghetto in Wilna herausholen können. Auch mich wollte sie ins Kloster bringen; allerdings hatte sie für meinen Mann und Jonas, den Mann meiner Schwester, noch keine sichere Bleibe gefunden.
Zunächst bereitete Jannina mir eine warme Mahlzeit und half mir, mich etwas hinzulegen und zu entspannen. Aber das war mir unmöglich. Ich bedachte den Plan, den mein Mann sich ausgedacht hatte. Er wollte mich im Kloster in Sicherheit bringen – aber das bedeutete Trennung – und ich wollte lieber mit meinem Mann zugrunde gehen als ihn allein zu lassen. Ich lag da und weinte, und Jannina sprach mir gut zu. Sie wollte versuchen, die Klosterfrauen zu überreden, dass Jascha bei mir bleiben dürfe. Auch Mizias Ehemann hatte darum gebeten, mit ins Kloster kommen zu dürfen. Aber im Kloster gab es keinen Platz für Männer. Trotzdem hoffte Jannina, dass die gutherzigen Nonnen ihr helfen würden, für die Männer auch eine Bleibe zu schaffen. Am Abend mietete Jannina eine Kutsche und wir fuhren zum Kloster, das sich in der Wilnaer Straße befand. Wir betraten zuerst die Kirche. Meine Tante wies mich an, niederzuknien. Sie selbst verschwand in den dunklen Gängen. Ich blieb allein zurück. Schon schmerzten meine Knie vom langen knien, da berührte mich Jannina an der Schulter. Mühsam erhob ich mich und trat aus der Kirche in die Ignazgastraße. Vor einem schweren Eisentor läutete Jannina an einem Eisenkreuz, das neben dem Tor hing. Eine Glocke ertönte im Inneren, das Tor öffnete sich und eine Nonne stand uns gegenüber, ganz schwarz gekleidet, nur mit einem weißen Schal über dem Kopf. Sie nahm meine Hand und führte mich, während Jannina zurückblieb. Wir durchquerten viele Gänge: ein Gang, ein zweiter, dritter und vierter; Gänge ohne Ende, lang und dunkel. Mir kam es vor, als ob ich nie wieder aus diesem Labyrinth herausfinden würde. Dann standen wir vor einer Tür, sie öffnete sich und da stand Mizia vor mir. Wir umfassten uns und weinten zusammen; ich merkte nicht einmal, dass wir nicht allein bei-einander waren. Mizias Sohn schlief gerade. Das war im September 1941.
Meine Schwester erzählte mir, dass sie sich im Ghetto von unserer Mutter getrennt hatte. Sie hatte die Mutter gedrängt und angefleht, mit ihr zu kommen, aber die Mutter hatte geantwortet: »Ihr Kinder seid noch jung und müsst auch für eure Kinder sorgen und jeden Weg zur Rettung versuchen. Ich selbst will nicht weg, ich will mit eurem Vater zusammenbleiben.«
Nun verstand ich, was das bedeutete: unser guter, lieber Vater war nicht mehr am Leben. Nur wenige Zeit danach ist auch unsere Mutter gestorben.
Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, erhebt sich wieder vor mir die Gestalt meiner lieben, barmherzigen und klugen Mutter, deren Seele aus den Vernichtungswäldern Ponars zu der unseres Vaters aufstieg. So zu sterben hatte sie sich in den guten Jahren vorher nicht vorstellen können.
Wir weinten die ganze Nacht. Schließlich versiegten unsere Tränen. Am Morgen kamen zwei Nonnen zu uns herein. Die ältere war die Oberin oder Klostermutter, die andere ihre jüngere Schwester, sie war sehr hübsch. Ihr Name war Schwester Lisa. Sie brachten uns Frühstück und wollten von den Ereignissen in Ponar hören. Wie sie uns berichteten, wurden neuerdings auch viele christliche Geistliche nach Ponar zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie wiesen uns an, dass wir uns, außer dem Gang zur Toilette, möglichst nur in unserem Versteck aufhalten und dass wir auch die Nähe der Fenster meiden sollten. Nur vier Schwestern wussten von unserer Existenz. Das waren die Oberin Matuschka, Schwester Lucia, Schwester Benedikta und Schwester Malvina, die vom Juden- zum Christentum übergetreten war und nun schon seit vierzig Jahren im Kloster lebte. Ich erzählte ihnen von meinem Mann, der sich immer noch in dem leeren Haus in Ponar inmitten von Mördern verstecken musste. Die Schwestern hörten mit Tränen in den Augen zu und verließen leise das Zimmer.
Mittag- und Abendessen brachte uns Schwester Benedikta. Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte ich Schwester Benedikta, dass ich leider nicht bleiben könne. Ich bedankte mich für die herzliche Aufnahme im Kloster. Da mein Mann in so großer Gefahr sei, müsste ich zu ihm zurück. Ich hatte meine Schwester und ihren Sohn gesehen, vom Tode meines Vaters erfahren und jetzt müsste ich zurück. Ich konnte nicht dort schlafen und essen, während mein Mann Hunger litt und sich verstecken musste. Wenn wir sterben müssten, dann wollten wir zusammen sein.
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