1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Das Kind hat schon ein Boot. Jenes aus rotem und gelbem Plastik, mit dem sie in der Badewanne spielt, wenn man sie badet. Sie sitzt im Wasser und schlägt mit ihren Händen aufs Wasser, das sie umgibt und das ihr bis an die Brust reicht. Sie dreht ihre Hände, als machte sie an Radioknöpfen herum, sie lehnt sich nach vorne, erwischt das Plastikboot, das sich vor ihr beim Wasserhahn befindet, hebt es aus dem Wasser, schaut den Tropfen zu, die in die Badewanne hinuntertropfen, macht mit dem Spielzeug ein paar Bewegungen in der Luft, taucht es bis zum Grund der Badewanne ins Wasser und hält es so einige Sekunden auf dem Emailboden der Badewanne fest. Dieses Plastikboot hat weder Matrosen noch einen Kapitän. Wenn du keine Pflanzen in die Konservenbüchse tun willst, wird das Mädchen eine Flotte von drei Booten haben. Das aus Papier wird Narzisse heißen. Das aus gelbem und rotem Plastik wird Flagge getauft werden. Sie wird sie alle drei ins Wasser setzen können.
* * *
Wegen dir müsste es das Wort «Verzweiflung» nicht geben. Auch dein Vater ist nicht verzweifelt. Er wollte dich in seiner Nähe haben und dachte an die Zukunft. Gott sei mit ihm! Mehrere Arbeiter, die auf der Baustelle deines Vaters arbeiteten, sind gekommen, um Abschied zu nehmen, und sie sind in das Totenzimmer getreten, sind zwischen den Leuten, die auf den Stühlen der Wand entlang saßen und dem Tisch, der den Sarg trug, durchgegangen, haben sich bekreuzigt, haben sich vornüber gebeugt, um die Stirn deines Vaters zu küssen, haben sich erneut bekreuzigt, sind einen Moment lang schweigend stehengeblieben und haben dann den Raum wieder verlassen. Du kanntest die meisten der Arbeiter deines Vaters. Wenn die Arbeiter deines Vaters Fußball spielten, war dein Vater ihr Schiedsrichter. Du warst der einzige Zuschauer des Fußballmatchs, den die Arbeiter deines Vaters austrugen. Dein Vater pfiff das Spiel mit einer Pfeife aus einem Stück Blech und Weißblech. Es war einer der Blechschmiede der Baustelle, der die Pfeife mit dem kleinen Kieselstein darin angefertigt hatte. Die Arbeiter waren je nach Arbeitsteam aufgeteilt. Es gab Matchs zwischen Elektrikern und Betonierern. Es gab Matchs zwischen Maurern und Verwaltungspersonal. Es gab eine Baustellenmeisterschaft, und nach jedem Spiel wurde mit Bier und Wein gefeiert. Sie kauften ganze Kisten Bier, und in jeder Kiste waren vierundzwanzig Flaschen. Jede Flasche enthielt einen halben Liter Bier. Sie kauften zu essen ein. Sie grillten am Rande des improvisierten Fußballfeldes auf dem Gelände der Baustelle. Sie aßen Käse, Salami, Fischkonserven und Schwarzbrot. Die Bauarbeiter liebten das Schwarzbrot aus Kartoffeln. Du hast ihre Matchs geschaut, dann hast du mit ihnen gegessen und sie reden hören. Du hast ihre verschiedenen Gesichter und ihre Sportanzüge angeschaut. Du warst mit deinem Vater bei einigen von ihnen zu Hause. Du kanntest die Familien einiger Arbeiter. Du hast all diese Leute auf der Baustelle arbeiten sehen. Du verbrachtest deine ganze Freizeit beim Fischen oder auf der Baustelle. Wenn du nicht beim Fischen oder auf der Baustelle warst, hast du gelesen. Du hattest mit drei oder vier Bauarbeitern Schwierigkeiten. Sie schikanierten dich. Sie zogen über deinen Vater her oder machten Masturbationsgesten. Du hast ein paar Arbeiter deines Vaters hinter dem Betonmischer oder hinter einem Steinhaufen beim Masturbieren gesehen. Du hast die Angelegenheit mit diesen drei oder vier Arbeitern sofort geregelt. Bevor auch sie zu deinen Freunden wurden, hast du sie bestraft. Du hast ihnen gezeigt, dass du auf eine andere Art und Weise Scherze triebst als sie. Dein Vater hat mir davon erzählt, was du mit ihnen angestellt hast. Du hast beinahe einen umgebracht. Er badete in einem der Wassertanks, die der Abkühlung von gewissen Arbeitsgeräten der sich im Bau befindenden Tabakfabrik dienten. Dieser Tank war ein riesiger Betonzylinder, und um ins Wasser zu gelangen, hatten die Arbeiter eine Art Leiter aus Betoneisen zusammengebastelt, die bis zum Wasser hinunterreichte. Zwischen dem Rand des Tanks und der Wasseroberfläche waren zwei Meter. Während dieser Mann badete, hast du die Leiter entfernt. Du hast ihn dazu gezwungen, bis zur Erschöpfung zu schwimmen, und du hast ihm zu verstehen gegeben, dass du ihn ertrinken lassen könntest. Er hat zu schreien angefangen. Du hast ihn angeschaut und hast gesagt, dass ihn keiner hören könne. Er wusste, dass niemand seine Schreie hören würde. Der Tank befand sich einige Hundert Meter von der Baustelle entfernt. Du warst zwölf Jahre alt. Der Mann im Wasser war fünfzig. Du hast die Leiter wieder angebracht, und er hat sich daran festgeklammert. Du hast gesagt: «Das nächste Mal lasse ich dich ertrinken, wenn du mich nicht in Ruhe lässt!»
Er hat Angst gehabt. Er ist zu deinem Vater gegangen und hat ihm gesagt, dass du ihm Angst eingejagt hättest. Dein Vater hat dir Fragen gestellt. Dein Vater wusste, dass einige seiner Arbeiter dich hänselten. Bei einem anderen Arbeiter, der dich hänselte, hast du auf alle seine Werkzeuge Kugellagerschmieröl getan. Er hat Stunden gebraucht, sie wieder zu reinigen. Dieser Mann hatte dich beleidigt. Er machte Anspielungen auf deine Mutter. Er sagte, er wolle, dass du ihm deine Mutter vorstellst, und du hast ihm gesagt, dass du ihm etwas antun könntest, aber er hat es dir nicht geglaubt. Er hat gemerkt, dass du es ernst meinst, als du eine Eisenstange neben ihm hast fallen lassen. Er kam mit einer mit frischem Beton gefüllten Schubkarre vorbei, und du hast diese Stange aus dem zweiten Stockwerk des Baugebäudes fallen lassen. Du hast sie einige Meter von ihm entfernt fallen lassen. Als er gestoppt hat, hat er nach oben geschaut und hat dich gesehen. Du hast gesagt: «Wenn du nicht aufhörst, mich zu schikanieren, werfe ich sie dir auf den Kopf!», und er hat dir nie wieder etwas getan. Später wurde er ein Freund von dir. Er hat dir sein Handwerk beigebracht. Einige Arbeiter deines Vaters erzählten dir von ihrem Handwerk, du hörtest ihnen zu, und sie schätzten es, dass du interessiert und aufmerksam zuhörtest. Irgendwann schikanierte dich niemand mehr. Man akzeptierte dich. Die Arbeiter sprachen über alles in deiner Gegenwart, und du warst über alle ihre Probleme auf dem Laufenden. Du hast deinem Vater nie davon erzählt, was du die anderen reden hörtest. Du hast den Arbeitern deines Vaters Geld gepumpt, und sie haben es dir an ihrem Zahltag zurückgegeben. Du hast Geld von deinem Taschengeld, das dein Vater dir gab, ausgeliehen. Auch dein Vater hat seinen Arbeitern Geld geliehen. Jeden Monat gab es Leute, die anderen Geld pumpten. Am Tag der Beerdigung deines Vaters sind mehrere Arbeiter zur Frau deines Vaters gegangen und haben ihr Geld gegeben, das den Schulden entsprach, die sie bei deinem Vater hatten, der gestorben und in diesem Sarg auf dem Tisch aufgestellt war. Alle sagten «Gott sei mit ihm!» Dein Vater war nicht zufrieden mit seinem Nachtwächter. Jede Nacht wurde Baustellenmaterial gestohlen. Sein Nachtwächter schlief während seines Dienstes. Er schlief in einer kleinen Blechbaracke. Er machte seine Rundgänge nicht. Eines Nachts, gegen ein Uhr morgens, hat dich dein Vater geweckt und hat gesagt, «zieh dich an!», und er hat dich mitgenommen, um die Arbeit des Baustellenwächters zu überprüfen. Ihr seid ganz nahe an die Blechbaracke des Wächters herangegangen, dann seid ihr eingetreten und habt ihn auf einem aus mehreren Matratzen improvisierten Bett schlafen sehen. Dein Vater hat ihm die Mütze vom Kopf genommen, hat die Pistole vom Gürtel gelöst, und ihr seid wieder gegangen, während er noch immer schlief.
Du hast eine Weile mit der entladenen Pistole und der Mütze des Nachtwächters gespielt. Am nächsten Morgen hat ihn dein Vater entlassen. Alle Nachtwächter schliefen während ihres Dienstes, und jede Nacht stahlen Leute aus dem Dorf Blech, Backsteine, Betoneisen, Nägel oder Bretter. Die Baustelle benötigte immer mehr Material als geplant. Dein Vater hat den Mitgliedern der Einheitspartei immer gesagt, dass die Leute des Dorfes das Material, das sie für die Reparatur ihrer Häuser benötigten, auf dem Markt nicht finden können. Dein Vater sagte, dass die Kosten für Baumaterial für Private viel zu hoch seien. Die Regionalführer der Einheitspartei sagten ihm, dass es in diesem Land keine Privatwirtschaft gebe. Dein Vater ist gestorben, und mehrere Mitglieder der Einheitspartei sind gekommen, um ihm zu sagen: «Gott sei mit dir!»
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