Ich wollte dich auf die schlechte Nachricht vorbereiten. Im zweiten Telegramm habe ich dir gesagt «Papa ist gestorben». Wegen der Post ist das zweite Telegramm zuerst eingetroffen. Das andere, in welchem ich dir sagte, dass es deinem Vater schlecht gehe, ist erst hinterher angekommen. Du hast mir gesagt, du wärst beim Angeln gewesen, im Fluss, mit deiner Angelrute. Deine Tante ist ans Flussufer gekommen, sie hat geweint, und sie hat dir zugerufen, dein Vater sei tot. Du hast die Schnur der Angelrute aus dem Wasser geholt, du hast den Haken in die Hand genommen, du hast den Regenwurm, der daran befestigt war, vom Haken losgemacht, du hast den Haken an der Angelrute befestigt, und du bist losmarschiert, im Wasser, auf das Flussufer zu, wo deine Tante weinte und sagte, dass dir ein Unglück widerfahren sei. Du hast gesagt, dass du in der einen Hand den Plastiksack mit den geangelten Fischen gehalten hast. Du hattest ungefähr zwei Kilogramm Fisch geangelt. Du bist durchs Wasser gegangen und hast die Angelrute über einer deiner Schultern getragen, und du hast an deinen Vater gedacht und das Wasser des Flusses angeschaut und deine Tante, die am Flussufer auf dich wartete, und du hast die Pappeln angeschaut, die am Flussufer wuchsen, wo deine Tante auf dich wartete, und du hast an deine Angelrute gedacht, die aus einem Schilfrohrhalm gemacht war. Es war warm. Du trugst Shorts, und in einer der Taschen dieser Shorts hattest du eine Wachsdose, in welcher du die Regenwürmer zum Fischen aufbewahrtest. Du hattest in deiner Hosentasche diese Blechbüchse mit dem Deckel voller Löcher, damit die Regenwürmer atmen konnten. In der anderen Hosentasche deiner Shorts hattest du eine Dose aus Plastik, eine Medikamentendose, und in dieser Dose bewahrtest du deine Reservehaken auf. Du hattest mehrere Reservehaken. Du trugst zu den Shorts einen Ledergürtel, und an diesem Gürtel hing in seinem Futteral dein Fischermesser. Dein Fischermesser, gemacht aus einem meiner Bajonette aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich kann mich gut an den Tag erinnern, an dem ich dir dieses Bajonett gegeben habe. Du hast dich dem Flussufer genähert, und du hast deine Tante gesehen, die eine Schürze über ihrem Rock trug, und du hast gedacht, dass sie wohl gerade dabei war, das Essen zuzubereiten. Du hast an deinen Vater gedacht. Du hattest ihn vor zwei Monaten gesehen. Er hatte dir ein Fahrrad gekauft. Ein Rennrad zu deiner bestandenen Prüfung. Vor zwei Monaten hattet ihr, dein Vater und du, deinen Eintritt ins Gymnasium gefeiert. Du hattest dir ein Rennrad gewünscht. Er hatte dir dieses Rennrad gekauft. Das Wasser des Flusses war warm, du bist hinaus- und die Uferböschung hinaufgestiegen, wo deine Tante geweint und gesagt hat, «er war ein guter Mensch, dein Vater». Du hast den Plastiksack, in dem die Fische waren, genommen und ihn deiner Tante gegeben. Sie hat den Sack mit den Fischen genommen, und ihr habt euch auf den Heimweg gemacht, auf dem Weg, der dem Flussufer entlang führt. Ihr seid unter den Ästen der Weidenbäume und unter den Ästen der Pappeln gegangen. Dort, wo das Flussufer die Straße erreichte, habt ihr den Weg genommen, der zum Haus deiner Tante führt, und jedes Mal, wenn ihr jemandem begegnet seid, hat deine Tante ihnen die schlechte Nachricht verkündet, sie ist einen Augenblick stehen geblieben und hat gesagt, «sein Vater ist gerade gestorben». Du hast deine Tante angeschaut und die Leute, welche vom Tod deines Vaters erfuhren. Du warst barfuß. Bis zum Haus deiner Tante seid ihr mehreren Leuten begegnet, die in der Straße wohnten und die deinen Vater kannten und die vom Tod deines Vaters erfuhren. Du hast nichts gesagt. Du bist in den Hof des Hauses deiner Tante gegangen und hast die Dose mit den Regenwürmern hervorgeholt, du hast den Deckel weggeschraubt und hast die Regenwürmer auf die Erde beim Rosenstock gekippt, im Schatten, und du hast gesehen, wie die Regenwürmer angefangen haben, sich zu bewegen, und wie sie in der Rosenstockerde nach Löchern gesucht haben und in diese Löcher verschwunden sind, wo sie vor der Hitze geschützt waren. Du hast den Deckel wieder auf die Wachsdose geschraubt und hast die Blechdose wieder in die Hosentasche gesteckt. Du bist um das Haus deines Onkels gegangen, bis zur Terrasse, du hast die Angelrute auf den Boden gelegt, hast dein Fischermesser vom Gürtel genommen und hast das Messer auf den Terrassentisch gelegt, dann hast du die Dose mit den Reservehaken und die Blechdose mit den Löchern im Deckel aus den Hosentaschen genommen und hast die beiden Dosen auf den Holztresen gelegt, welcher an der Absperrung zwischen Terrasse und Hühnerhof angebracht war. Du hast deiner Tante gesagt, dass du zu deiner Großmutter gehen würdest. Die Großmutter wohnte in derselben Straße. Sie wohnte zweihundert Meter weiter unten. Du wohntest bei deiner Großmutter, im selben Haus. Deine Großmutter hatte zwei Zimmer und eine große Diele, und du hattest zwei Zimmer für dich alleine. Du warst vierzehn Jahre alt. Du warst gerade vierzehn Jahre alt geworden. Du bist den Weg zwischen dem Haus deines Onkels und dem Haus deiner Großmutter alleine gegangen. Du hast an den Tod gedacht. Der Tod deines Papas war nicht der Tod. Dir ist bewusst geworden, dass der Tod von jemandem nicht dein Tod ist. Du hast verstanden, dass dein Vater nie mehr mit dir sprechen würde, und dass dies nicht bedeutete, dass dein Vater dich für immer verlassen hatte. Du hast den Hof des Hauses betreten, in dem du mit deiner Großmutter mütterlicherseits wohntest, und du hast deine Großmutter gesehen, wie sie dich bereits auf der Schwelle ihrer Sommerküche erwartete. Sie hat gesagt, «sei stark, wir alle enden unter der Erde, ob es uns passt oder nicht». Sie hat gesagt, «er ist jung gestorben, dein Vater», und sie hat dich gefragt, ob du dich waschen möchtest. Sie hat einen Holzschemel und ein Plastikbecken aus der Küche geholt und hat das Becken auf den Holzschemel gestellt, vor der Tür ihrer Küche, dann ist sie Wasser holen gegangen, am Brunnen im Hof vor dem Haus. Sie hat einen großen Kochtopf mit Wasser volllaufen lassen und hat diesen mit Wasser gefüllten Kochtopf auf eine heiße Platte des Herdes gestellt, dann hat sie die Seife geholt und auf den Holzschemel neben das Becken gelegt. Du bist auf der Türschwelle der Küche gesessen und hast die Kastanienbäume im Hof angeschaut und den Kirschbaum. Du hast nichts gedacht. Du hast deine gekreuzten Arme auf den Knien angeschaut, und du hast deine nackten Füße angeschaut, und du hast die Leute angeschaut, die auf der Straße vorbeigegangen sind und die du durch die Lücken des Holzzaunes hindurch hast erkennen können. Sie ist mit dem heißen Wasser gekommen und hat mehrere Liter heißes Wasser in das Becken geleert, dann ist sie mit dem kalten Wasser gekommen und hat das kalte Wasser zum heißen Wasser geleert und hat mit der Hand das Gemisch aus dem heißen und dem kalten Wasser geprüft, dann hat sie gesagt, «jetzt ist es gut, du kannst anfangen», dann ist sie in die Sommerküche zurückgegangen. Dein Vater war eine Art Rebell, der vor niemandem ein Blatt vor den Mund nahm. Du hast die Seife genommen, und vor dem Becken auf dem Holzschemel stehend hast du eine deiner Hände ins Wasser getaucht, hast mit deinem Handteller Wasser genommen, hast das Wasser auf deinen Arm rinnen lassen, auf deine Schultern, deinen Hals, deine Brust, und hast jede Stelle deines Körpers eingeseift. Du hattest deinen Vater nicht oft gesehen. Du hattest ihn nur wenige Monate im Jahr gesehen. Du hast das schmutzige Wasser von deinem Körper in das Plastikbecken tröpfeln sehen, du hast deine Haut gerieben und gesehen, wie sich eine graue Schaumschicht gebildet hat auf der Oberfläche des Wassers im Becken, und deine Großmutter hat dir von der Schwelle der Sommerküche aus zugeschaut. Als sie gesehen hat, dass du fertig warst, hat sie dir kaltes Wasser zum Abspülen gebracht, sie hat das kalte Wasser mit einem Eimer über dich geschüttet, und du hast die Rinnfäden des kalten Wassers in deinen Handflächen aufgefangen und hast kaltes Wasser auf deine Arme und deine Schultern und deinen Nacken laufen lassen, und da hast du zum ersten Mal geweint. Zum ersten Mal in deinem Leben, mit vierzehn, hast du geweint.
Читать дальше